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Die Macht der Klänge – “Galaxie Pierre Henry” Edition

Pierre Henry
© Guy Vivien / Decca France
24.03.2021
Der französische Komponist Pierre Henry verkörperte die vor allem in den 60er Jahren beginnende Revolutionierung des klassischen Musikbetriebes. Er gilt neben Pierre Schaeffer als einer der Pioniere der “Musique concrète”, einer Kompositionstechnik, bei der es nicht mehr um notierte Melodieabläufe oder harmonische Strukturen ging, die kammermusikalisch oder mit großen Orchestern, verwirklicht wurden. Schon das “Handwerkszeug” der Vertreter der “Musique concrète” unterschied sich grundlegend von dem traditioneller Komponisten: Nicht mehr die Partitur, sondern das Mischpult, nicht der Konzertsaal, sondern das Elektronikstudio mit Sounddateien, gespeicherten Klängen, verfremdeten akustischen Alltagsignalen waren jetzt die Grundlage, auf der jene Musik entstand. In ihr wurde zugleich auch die Trennung zwischen Komponist und Interpret aufgehoben. Diese Art des Umgangs mit Klängen und Sound sollte in Windeseile auch die Popmusik beeinflussen, bei der das “Sampeln”, das Aufnehmen und synthetische Bearbeiten diverser Sounds inzwischen alltäglich ist.

Zerlegt und neu zusammengefügt

Pierre Henry, am 9. Dezember 1927 geboren, begann bereits im Alter von sieben Jahren ein Musikstudium. Mit zehn Jahren ging er ans Pariser Konservatorium, wo er bis 1947 insbesondere durch den Unterricht bei Fèlix Passerone, Nadia Boulanger und Olivier Messiaen geprägt wurde. Dessen Schaffen, so sagte Henry später, sei die entscheidende Offenbarung in seinem frühen Werdegang gewesen, das vom permanenten Streben nach Erneuerung in der Musik geprägt sei. 1960 gründete Pierre Henry sein eigenes Studio für elektronische Musik. Die gemeinsam mit Pierre Schaeffer komponierte “Symphonie pour un homme” (1949–50) machte bei ihrer Uraufführung als erstes signifikantes Werk dieser neuen Richtung Furore.
Bereits 2017 hatte DECCA Records France unter dem Titel “Polyphonies” eine 12-CD-Box mit Werken Pierre Henrys anlässlich dessen 90. Geburtstages veröffentlicht. Jetzt legt das Label mit einer weiteren 13-CD-Box nach: “Galaxie Pierre Henry” mit Werken aus den Jahren 1958 bis 2017. Deren Repertoire ist auch insofern eine echte Ergänzung, als dass gut ein Drittel aller Stücke hier zum ersten Mal veröffentlicht. Mit “Polyphonies” bildet “Galaxie Pierre Henry” damit eine umfassende Gesamtschau auf das Schaffen Pierre Henrys.
Beredtes Beispiel für die Methode der “Musique concrète” ist etwa die 1967 entstandene “Messe de Liverpool”. Hier werden Instrumentales und Gesungenes mit Sprachfetzen durchsetzt, die lateinischen Worte des Messtextes akustisch verfremdet, in ihre Einzelteile zerlegt und neu zusammengefügt. Damit wird eine Distanz geschaffen, die vom Zuhörer einen ganz neuen, aktiveren Zugang zum spirituellen Hintergrund der Messe verlangt. Ebenso ist die fünfteilige Toncollage “Apocalypse de Jean” aus dem Jahre 1968 ein Beispiel für die “Musique concrète”. Sie erschien ursprünglich als Dreifach-Vinyl und ist in dieser Box auf zwei CDs enthalten.

Die Wiege des Psychodelic-Rocks

Henrys bekanntestes Werk “Messe pour le temps présent” entstand ebenfalls 1967 und war eine Zusammenarbeit mit dem Filmkomponisten Michel Colombier. Die knapp 13-minütige “Messe” ist in vier Teile gegliedert und für ein Instrumentarium komponiert, wie es in der Blütezeit des Psychodelic-Rock zum Ende der 60er Jahre Anwendung fand: Bass, Schlagzeug, verzerrte E-Gitarren, Synthesizer, vereinzelt Bläser. Das Werk entstand für die Tanzcompany von Maurice Bejart und demonstriert einmal mehr die durch Henry aufgehobene Trennung der “E”- von der “U”-Musik.
Das musikalische Spektrum Henrys wird nicht nur durch die Art und Weise der Collagetechniken, bestimmt, sondern auch durch die Breite des musikalischen Ausgangsmaterials, dessen Henry sich bediente. In einem seiner letzten Werke, dem aus acht Episoden bestehenden “Dracula”, exerziert Henry über eine Länge von gut 55 Minuten den letzten Stand seiner Technik: Die gedankliche Aneignung und Verarbeitung vorhandenen musikalischen Materials, indem man es in einen ganz anderen außermusikalischen Kontext stellt und obendrein durch Collagentechnik verfremdet. Für seinen “Dracula” griff Pierre Henry auf die Musik Richard Wagners, namentlich auf “Das Rheingold” und “Die Walküre”, zurück.
Unter den Werken, die in dieser Box zum ersten Mal veröffentlicht werden, befinden auch die beiden Stücke “La Note seule” und “Grand tremblement”, die Henry in seinem letzten Lebensjahr komponierte. Alain Lompech schrieb im Oktober 1996 in Le Monde: “Die Realität von Pierre Henrys Musik ist in keiner Weise durch die Zeit fixiert; seine evokativen Kräfte und seine Poetik, so einzigartig wie sein eigener Humor, haben vielleicht die außergewöhnlichste Qualität, die westliche Musik hervorgebracht hat: das Summen der Welt, das zu einem Kunstwerk gemacht wurde.”
Pierre Henry starb am 5. Juli 2017. Für alle, die für den Reiz der Entdeckung neuer akustischer Welten durch das Wirken Pierre Henry empfänglich sind, ist diese erweiterte Werkschau genau das Richtige. 

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