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Zwischen Spätromantik und Moderne – Paavo Järvi entdeckt Franz Schmidts Werk wieder

Franz Schmidt: Complete Symphonies / Paavo Järvi
© Kaupo Kikkas (Foto) / Fred Münzmaier (Gestaltung)
10.09.2020
Franz Schmidt, am 22.12.1874 in Pressburg (Bratislava) geboren, hatte seinen ersten Klavierunterricht durch seine Mutter Maria erhalten. Nach der Übersiedlung der Familie 1888 nach Wien studierte Schmidt Violoncello und  Komposition und beendete das Studium am Konservatorium 1896 mit Auszeichnung. Noch im selben Jahr wurde er als Cellist ins Orchester der Wiener Hofoper und der Wiener Philharmoniker berufen.

In der Tradition von Brahms und Bruckner

Die außerordentliche musikalische Begabung Franz Schmidts war legendär – er war bekannt dafür, die Werke der großen Meister auswendig zu kennen und auf Wunsch Abschnitte aus einem alle Gattungen umfassenden Repertoire am Klavier wiedergeben zu können. Nicht von ungefähr gilt Franz Schmidt als Spätromantiker, dessen musikalische Ausrichtung sich mehr an der Tradition eines Johannes Brahms oder Anton Bruckner orientiert,  als an den “Neutönern” wie Anton Weben oder Arnold Schönberg. Deutlich vernehmbar in seiner Ersten Sinfonie, die am 25. Januar 1902 in Wien uraufgeführt wurde. Das viersätzige Werk kommt, im Unterschied zu seiner späteren vierten Sinfonie  geradezu leicht und mit optimistischer Stimmung daher. Dass er einst als pianistisches Wunderkind von Erzherzogin Isabella gefördert wurde, veranlasste Franz Schmidt später, ihr seine Erste Sinfonie zu widmen. Obwohl sie bei einem Wettbewerb der Gesellschaft der Musikfreunde 1900 den Ersten Preis errang, teilte die Erste das Schicksal der späteren Sinfonien Franz Schmidts: musikhistorisch und aus Sicht der Konzertveranstalter blieb sie von geringem Interesse.

Musik in Schuberts Geist

Umso verdienstvoller sind die jetzt veröffentlichten Konzertaufzeichnungen Paavo Järvis mit dem hr-Sinfonieorchester, rücken sie doch das sinfonische Werk Schmidts ins rechte Licht. Sie offenbaren beeindruckend auch die Größe der zweiten Sinfonie, die Franz Schmidt nach seinem Rückzug aus dem Hofopernorchester 1911 zu komponieren begann und die zwei Jahre später unter der Leitung des Dirigenten und langjährigen Direktors der Wiener Staatsoper Franz Schalk uraufgeführt wurde. Deutlich weist sie auf Schmidts jahrelange Orchestererfahrung unter Gustav Mahler hin, nicht zuletzt in ihrer Instrumentation – Schmidt verlangt für die Zweite ein überdurchschnittlich großes Orchester – und dem gleichwohl subtilen Klangbild. Mit ihren drei Sätzen ist sie auch in der Struktur eher ungewöhnlich: während die beiden ersten in einem schnelles Grundtempo verlaufen, steht – dazu im Kontrast – über dem finale die Spielanweisung “Langsam”. Auch die Zweite führte nach der zunächst begeisterten Annahme durch die Wiener Philharmoniker, die das Werk 1914 in ihr Programm nahmen, späterhin ein Schattendasein.
Wiederum unter Leitung Franz Schalks fand 15 Jahre später am 2. Dezember 1928 die Uraufführung der Dritten Sinfonie statt. Mit ihr hatte Franz Schmidt sich erfolgreich an einem Wettbewerb zum 100. Todestag Franz Schuberts um die “beste Sinfonie im Geiste Schuberts” beteiligt. Immer ausgeprägter zeigt sich in ihr sein Ringen zwischen der traditionellen, neuromantischen und der Formensprache der Moderne, des Experimentellen.

Bewegendes Lamento

Der besonders tragische Hintergrund für die Entstehung der vierten Sinfonie drückte diesem Werk, das in den Jahren 1932/33 entstand, sein Siegel auf: Franz Schmidts einzige Tochter starb bei der Geburt ihres Kindes, seiner Enkeltochter. Hinzu kam die psychische Erkrankung seiner Frau. Auch dieses Werk ist eigentlich viersätzig – aufgeführt wird es dennoch in einem Stück, attacca, ohne Satzpausen. Aus dem aufwühlenden Klanggeschehen am Ende des ersten Satzes nimmt eine einsame Cellostimme, einem Echo gleich, den Gedanken auf und führt mit einem zu Herzen gehenden Thema hinüber in das Adagio, den zweiten Satz – Franz Schmidt nannte ihn das “Requiem für meine Tochter”. Der britische Komponist Harold Truscott, der sich intensiv mit dem Werk Franz Schmidts auseinandergesetzt hatte, schrieb über dieses Adagio, es sei der bewegendste Klagegesang der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Und ganz in diesem Sinne, jedoch ohne Schwülstigkeit und Sentimentalität geben das hr-Sinfonieorchester und Paavo Järvi diesem Gedanken Raum.
Auch das wohl bekannteste und tatsächlich meistgespielte Stück Franz Schmidts, das Intermezzo, aus seiner spätromantischen zweiaktigen Oper “Notre Dame”, findet seinen Platz auf dieser aufregenden Einspielung. Paavo Järvi leistet damit einen wunderbaren Beitrag zur Schließung einer großen Lücke im musikalischen Gedächtnis des Musiklebens unserer Zeit.

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