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Musik ohne Routine – Erich Kleibers komplette Aufnahmen für Decca

Erich Kleiber
© DG
02.12.2021
Er war einer der bedeutendsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts: der am 5. August 1890 in Wien geborene Erich Kleiber, dem die Decca jetzt anlässlich seines 65. Todestages eine spezielle Edition widmet: “The Complete Decca Recordings”.
Einen wesentlichen Impuls für sein frühes Interesse am Dirigentenberuf gab die Begegnung mit Gustav Mahlers 6. Sinfonie: Kleiber erlebte sie in Wien, als der Komponist selbst sie dirigierte. Wie bei den meisten Dirigenten seiner Generation verlief auch Erich Kleibers Entwicklung zunächst auf übliche Weise: von kleinen dotierten Orchesterstellen an den verschiedensten Theatern und Landesbühnen bis hin zur Berufung an die größeren Häuser. Es begann 1911 mit einem Engagement als Chordirigent am Deutschen Theater Prag. Die darauf folgende Kapellmeisterstelle in Darmstadt (1912 bis 1918) sollte ein wichtiger Meilenstein für ihn sein, denn hier machte er sich ausgiebig mit dem Wirken des Dirigenten Artur Nikisch vertraut. Er studierte nicht nur dessen Umsetzung des symphonischen Repertoires, sondern machte sich auch Nikischs sparsame Schlagtechnik zu eigen, wie sie später für ihn charakteristisch sein sollte.

Kleibers Uraufführung des “Wozzeck” in Berlin

1923 schließlich folgte die Berufung zum Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper. Zwölf Jahre lang hatte Erich Kleiber nun einen der begehrtesten Posten der Opernwelt inne, noch dazu an einem Hause von höchstem gesanglichen Niveau. Die Uraufführung der Oper Wozzeck” seines Freundes Alban Berg am 14. Dezember 1925 gehört zweifellos zu den herausragendsten Leistungen auf dem Gebiet der Oper jener Zeit. Sage und schreibe 137 Proben wandte er dafür auf. Erich Kleibers Karriere wurde von den politischen Ereignissen seiner Zeit stark beeinflusst. Nachdem unter den Nationalsozialisten Opern wie “Lulu” verboten wurden, verließ er 1934 die Lindenoper, ging ins Exil nach Argentinien, wo er am Teatro Colón in Buenos Aires 1937 bis 1949 das deutsche Repertoire leitete. Eine Rückkehr als Chefdirigent an die Berliner Staatsoper 1954 in der damaligen DDR fand bereits nach einigen Monaten ihr Ende, wiederum aus Opposition zu den herrschenden politischen Verhältnissen.
Längst gehörte Erich Kleiber zu den berühmtesten Dirigenten seiner Zeit, der wechselweise in Berlin, Wien, Stockholm, Amsterdam, London, Stuttgart und Köln dirigierte. Einen dauerhaften Dirigentenposten jedoch bekam er nicht mehr angeboten. Weder an der Wiener Staatsoper noch bei den Salzburger Festspielen konnte er Fuß fassen – und das trotz seines grandiosen Debüts in Salzburg im August 1935. Hier beeindruckte er zunächst “…mit sparsamen Gesten und selbstverständlicher Einfachheit, mit der er das Bach‘sche Klavierkonzert in d-moll leitete. Aber er wird zum Dämon seines Orchesters, wenn er Beethoven spielt, und dies gerade in der flüssigen VII. Symphonie mit ihren tänzerischen und oft volkstümlichen Rhythmen”, schwärmte der Rezensent des Salzburger Volksblatts am nächsten Tag. “Hier weiß er seine Hörer von den ersten Akkordschlägen an zu packen. Die Gestalt wird beweglich, das Antlitz erhält einen herben, kämpferischen Zug, die Arme breiten und strecken sich, um mit Wucht auf die Fortestellen niederzusausen…”
Dass er ausgerechnet am 200. Geburtstag des von ihm so geliebten Wolfgang Amadeus Mozart am 27. Januar 1956 verstarb, ist in diesem Zusammenhang besonders bemerkenswert: Am Abend zuvor hatte er Mozart zu Ehren mit dem Kölner Rundfunkorchester in Zürich ein Konzert gegeben. Es sollte sein letztes sein.

Aufsehenerregende Aufnahme des “Figaro”

Vor diesem Hintergrund kommt der Box, die Decca jetzt anlässlich des 65. Todestages Erich Kleibers veröffentlicht, eine ganz besondere Bedeutung zu. Nicht nur, dass diese Edition sämtliche Aufnahmen Kleibers für Decca enthält. Sie demonstriert auch auf beeindruckende Weise, dass sich Erich Kleibers Karriere zu gleichen Teilen auf der Opernbühne und dem Konzertsaal abspielte.
Exemplarisch für sein Opernschaffen sind die beiden hier enthaltenen Gesamtaufnahmen des Rosenkavaliers” von Richard Strauss aus dem Jahre 1954 mit Maria Reining, Sena Jurinac, Hilde Gueden und Ludwig Weber und jene fabelhafte Aufnahme von Mozarts Le nozze di Figaro”. Beide Male dirigierte Erich Kleiber die Wiener Philharmoniker. Was die “Figaro”-Aufnahme von 1955 so bedeutend macht, ist nicht nur die Tatsache, dass es die erste Gesamtaufnahme dieses Werkes einschließlich aller Rezitative war. Kleiber schuf mit dem herausragenden Sängerensemble u.a. mit Lisa della Casa, Hilde Gueden, Alfred Poell und Cesare Siepi und seiner stets am Werk orientierten Auffassung, die keine aufgesetzten Verzierungen zuließ, ein Musikerlebnis, das seinerzeit beispiellos war. Von der Ouvertüre, die man erfrischender in Einspielungen aus dieser Zeit nie gehört hat, bis hin zu dem großen Vergebungsfinale, voll von Emotion und dabei frei von Sentimentalität und all das in höchster technischer Qualität!  

Detailversessen und partiturgetreu

Die Palette des Konzertrepertoires, das Erich Kleiber neben den Opern etwa mit dem London Philharmonic Orchestra, dem Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire, dem Royal Concertgebouw Orchestra, den Wiener Philharmonikern und dem Kölner Rundfunk Sinfonie Orchester einspielte, reicht von den frühen 78er Aufnahmen bis zum letzten Stück, das er aufnehmen sollte: “Die Schlittenfahrt” aus Mozarts “Drei Deutsche Tänze” (K 605). Es enthält neben einem kompletten Beethoven-Sinfonien-Zyklus auch Tschaikowskys vierte und sechste Sinfonie, Carl Maria von Webers Erste, Schuberts Neunte und Mozarts g-Moll-Sinfonie Nr. 40, Ouvertüren von Dvořák und Händel, sowie Stücke von Johann und Josef Strauss.
Ein echtes Fundstück für all jene, die sich noch ausgiebiger mit dem Schaffen des großen Dirigenten Erich Kleiber auseinandersetzen möchten, ist eine von Jon Tolansky produzierte Dokumentation, die als Bonus-CD in der Box enthalten ist: “Erich Kleiber – Testimonies”. In fünf Kapiteln behandelt er Kleibers Jahre an der Berliner Staatsoper und die "Wozzeck”-Premiere, seine Zusammenarbeit mit dem London Philharmonic Orchestra und der Covent Garden Opera Company.
Zu den vielen Erinnerungen an Erich Kleiber, an seine detailversessene und partiturgetreue Arbeit, zählt die eines Geigers der Dresdner Staatskapelle. Kleiber, dem jegliche Routine fremd war, arbeitete damals in schier endlosen Proben am “Freischütz”. Der Orchesterdirektor hatte versucht ihm anzudeuten, dass das Orchester die vielen Proben dafür nicht brauche. Es habe das Stück schon so oft gespielt. Kleibers Antwort? “Eben darum!”

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