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KlassikAkzente Jahresrückblick: die besten Klassik Alben 2021

Daniil Trifonov
© Dario Acosta / DG
15.12.2021
Und da wären wir wieder mit dem mittlerweile bereits traditionellen Jahresrückblick auf der digitalen Plattform für klassische Musik – Ihren KlassikAkzenten. Doch auch, wenn alles hier auf den ersten Blick so scheint wie immer – die Realität unser aller Leben im Allgemeinen und des Musiklebens im Besonderen ist weit entfernt davon, normal oder wie noch vor zwei Jahren zu sein. Musikhören bzw. Musik zuzuhören hat einen anderen, viel komplexeren und vor allem individuelleren Stellenwert bekommen. Denn ich wage zu behaupten, dass keiner von uns je an ein von einer weltweiten Pandemie bestimmtes Musikleben gedacht hat, geschweige denn, sich damit arrangieren musste. Und doch ist es gerade und immer wieder die Musik, die uns in schweren Zeiten Trost, Mut und Zuversicht geschenkt hat aufgrund ihrer universellen zu Herzen gehenden Sprache.
2021 hat einer der größten in der aktuellen Zunft der Pianisten sein bislang persönlichstes Album veröffentlicht und damit einen Meilenstein nicht nur in der Auseinandersetzung mit seiner, sondern mit jedweder Zeit gesetzt: die Rede ist von dem russischen Ausnahmepianisten Daniil Trifonov und seinem Album “The Art of Life”. Als freie Assoziation zu Bachs genialer “Kunst der Fuge” entwickelt, zeigt Trifonov in Auswahl und Interpretation seines Albumrepertoires nicht nur die Vielschichtigkeit von Bachs Musik, vielmehr auch die Allgemeingültigkeit und Zeitlosigkeit der Verbindung von Mensch und Musik im Allgemeinen sowie Bachs Musik und unserer schwierigen Zeit im Besonderen. “Wenn ich Bach spiele, nehme ich die Zeit nicht wahr”, sagt Trifonov, und man ist versucht, aus “die Zeit” diese unsere Zeit herauszulesen.

Anna Netrebko zelebriert die Schönheit des Gesangs

Ganz anders die Diva assoluta unserer Tage, die russische Sopranistin Anna Netrebko. Mit großer Stimme, vokalem Aplomb und einer interessanten Vorausschau auf, möglicherweise, Kommendes in ihrem Bühnenrepertoire, zelebriert sie auf ihrem Album mit dem mystischen Titel “Amata dalle tenebre” die Schönheit des Gesangs und jener ikonischen Stücke, die aus der Feder großer Komponisten stammen: Isoldes Liebestod neben Ariadnes Todessehnsucht, Lisas und Didos Todesentschlossenheit neben Aidas Flehen zu den Göttern und Elisabettas schmerzerfülltem Verzicht. Ein Album, welches seinem Titel “Von der Dunkelheit geliebt” und seiner Interpretin alle Ehre macht.
Mit zwei Legenden ganz anderer, eigener Art reüssiert der Deutsche Grammophon-Katalog: dem österreichischen Pianisten Rudolf Buchbinder und dem amerikanischen Orpheus Chamber Orchestra. Ein Herzensanliegen des vor wenigen Tagen 75 Jahre alt gewordenen Buchbinder war es ein ganzes Pianistenleben lang, das Oeuvre Ludwig van Beethovens immer wieder neu zu erkunden und zu interpretieren. Mit seinen “Complete Beethoven Sonatas” präsentierte Buchbinder den ersten Zyklus in der Geschichte der renommierten Salzburger Festspiele, den ein einziger Pianist mit sämtlichen Klaviersonaten Beethovens auf Tonträgern dokumentiert hat. In seiner Edition der 5 Klavierkonzerte Beethovens wiederum verdient ein Teil besondere Beachtung: die sublime Darbietung des Zweiten Klavierkonzerts mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und Mariss Jansons. Sie legt Zeugnis ab von der letzten Zusammenarbeit mit Mariss Jansons, dem Rudolf Buchbinder bis zum Tod des Dirigenten im Dezember 2019 sehr eng verbunden war.

50-jähriges Bestehen des Orpheus Chamber Orchestra

Das Orpheus Chamber Orchestra feiert sein 50-jähriges Bestehen im kommenden Jahr – die Box war bereits bei ihrer Veröffentlichung 2021 weltweit innerhalb von nur einer Woche ausverkauft und wurde jetzt für das Jubiläum nachgefertigt. Das Orchester, 1972 zu Zeiten der Proteste gegen die Intervention der USA im Vietnam-Krieg gegründet, arbeitete von Anfang ausnahmslos ohne Dirigenten und dieser demokratische und kooperative Ansatz führte zu herausragend-inspirierten Einspielungen auf dem Gelblabel, in der alle engagiert für die gemeinsame Idee musizierten. 14 Alben aus der Diskographie des Ensembles erschienen in dieser umfassenden Kollektion erstmals digital. Die CD-Edition enthält darüber hinaus noch eine Erstveröffentlichung von Felix Mendelssohns “Italienischer Symphonie”. Alles in allem eine längst überfällige Hommage an eines der spannendsten und innovativsten Ensembles im Portfolio der Deutschen Grammophon.
Vom Sound vergangener Tage machen wir den Sprung über Jahrzehnte hinweg in die Klangwelten unserer modernen Zeit. Das einst müde belächelte “New Repertoire”-Genre hat sich binnen kurzem zu einer der tragenden Säulen im Musikgeschäft unserer Tage entwickelt und das vor allem dank neuer aufregender Konzepte und einer Musiksprache, die den Weg in die Köpfe und zu den Herzen vor allem jüngerer Zielgruppen gefunden hat und findet. Zwei Veröffentlichungen stehen hier stellvertretend für ein neues Repertoire: das junge avantgardistische polnische Duo Hania & Dobrawa auf der einen und der Grandseigneur der New Repertoire-Bewegung Max Richter auf der anderen Seite. Mit ihrem Album “Inner Symphonies” debütierten die beiden polnischen Musikerinnen Hania Rani und Dobrawa Czocher 2021 auf Deutsche Grammophon und konnten sich auf einen Schlag als die neuen Gesichter des New Repertoire etablieren. Nicht nur mit ihrer von geballter Frauenpower getragenen Performance anlässlich des 20-jährigen “Yellow Lounge”-Jubiläums beim diesjährigen Reeperbahn Festival in Hamburg, sondern auch und vor allem mit ihrem hoch-emotionalen und klar Position beziehenden Musikvideo “Malasana” zu Migration und der Situation Geflüchteter zog das Duo nicht nur weltweites Interesse, sondern auch tiefe Sympathie auf sich und ihre Musik.

Das musikalische Spektrum von New Repertoire

Thematisch in dieselbe Richtung, allerdings mit gänzlich unterschiedlichen musikalischen Mitteln, zielte Max Richters Album “Exiles”, welches sich ebenfalls mit der weltweiten Flüchtlingskrise und dem Schicksal Geflüchteter auseinandersetzt. Doch im Gegensatz zu Hania & Dobrawas grundlegend minimalistischer Klangsprache bedient sich Max Richter in seinem Bemühen, dem komplexen Thema so umfassend wie möglich musikalisch gerecht zu werden, des großen Klangapparats eines Sinfonieorchesters und seines engagierten Dirigenten: dem Baltic Sea Philharmonic unter Leitung von Kristjan Järvi. Zwei Seiten einer Medaille, welche die Bandbreite des musikalischen Spektrums von New Repertoire eindrucksvoll dokumentiert.
Last but not last ein Isländer. Natürlich. Die Nordsee-Insel mit Gänsehaut-Feeling ist seit Jahren die Heimat interessanter, innovativer und musikalisch sehr individueller Musikerinnen und Musiker: Ólafur Arnalds und Jóhan Jóhannsson stehen selbstredend für diese besondere Spezies europäischer Musikerinnen und Musiker. Und gehörte das Jahr 2020 ganz der Komponistin und Interpretin Hildur Guðnadóttir und ihrem Triumphzug von einer internationalen Musikpreis-Verleihung zur nächsten, so war 2021 das Jahr des Pianisten Vikingur Ólafsson. Mit seinen klug erdachten Konzeptalben und seinem sehr zeitgemäßen Auftreten ist Vikingur längst den Schuhen des Newcomers entwachsen und gehört heute zu den klassischen Lieblingsmusikern einer neugierigen und aufnahmebereiten jüngeren Generation.
Mit seinem Rameau gewidmeten Vorgängeralbum legte er den Grundstein für den Erfolg seines neuen, “Mozart & Contemporaries” gewidmeten Albums und überzeugte Publikum und Presse, und das nicht nur bei den diesjährigen BBC Proms, gleichermaßen: eine Nominierung unter den 10 Top-Album klassischer Musik 2021 und zahlreiche Musikpreise waren der verdiente Lohn für einen Pianisten, der wie kaum ein Zweiter höchste musikalisch-interpretatorische Qualität mit dem Zeitgeist unserer Tage verbindet.

Optimistischer Beitrag für eine Zeit nach der Pandemie 

Trifonov, Netrebko, Hania & Dobrawa und Ólafsson und viele andere stehen stellvertretend für alle Musikerinnen und Musiker, die unter schwierigen Bedingungen und angesichts einer nie dagewesenen Pandemie-Situation ihre Inspiration, ihr Können und ihre Empathie für die unter Corona stöhnende Welt eingesetzt haben und damit ihren wunderbaren, optimistischen Beitrag für eine Zeit nach der Pandemie geleistet haben. Möge diese Zeit im kommenden Jahr 2022 ihren Anfang nehmen.
 
Andreas Kluge

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