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Begegnung mit einem außergewöhnlichen Pianisten

Carl Seemann
© Ruth Wilhelmi
21.06.2022
Er gehörte zu den bedeutendsten deutschen Pianisten des 20. Jahrhunderts – der 1913 in Bremen geborene Carl Seemann. Nach seinem Abitur ging er nach Leipzig, um dort bei Karl Straube, Günther Ramin und Kurt Thomas Kirchenmusik zu studieren. Es war vor allem Carl Adolf Martienssen, der der im Bereich der Methodik des Klavierspiels einen maßgeblichen Einfluss auf Seemann ausüben sollte. Die Aufforderung an seine Schüler, ein Kunstwerk bis in die kleinsten und feinsten Veränderungen seines Aufbaus zu erkennen, es aus seiner Zeit heraus zu verstehen und zugleich “ohne jedes persönliche Hinzutun zu lernen und zu studieren”, sollte den Klavierstil Carl Seemanns zukünftig prägen. Im Alter von 25 Jahren schlug Seemann eine Pianistenlaufbahn ein. Es waren nicht nur seine Technik, sondern auch die seinerzeit ungewöhnlichen Konzertprogramme, mit denen Seemann auf sich aufmerksam machte. 

“Con discrezione” – Mit Zurückhaltung

1952 begann Carl Seemann mit Aufnahmen für die Deutsche Grammophon. Die Zusammenarbeit mit dem Yellow Label sollte den größten Teil seiner Karriere über andauern. Welch reiche Früchte sie getragen hat, belegt die anlässlich des bevorstehenden 40. Todestages des Pianisten im Jahr 2023 veröffentlichte “Complete Carl Seemann Edition”. Sie vereint auf 25 CDs und einer Blu-ray Audio Disc zum ersten Mal sämtliche Aufnahmen Seemanns für die Deutsche Grammophon, etwa mit den Orchesteraufnahmen, bei denen er mit den Berliner Philharmonikern, den Bamberger Symphonikern, dem NDR -Sinfonieorchester oder den Münchner Philharmonikern unter Dirigenten wie Fritz Lehmann, Hans Schmidt-Isserstedt oder Ferdinand Leitner spielte
Die Box enthält auch Seemanns Soloaufnahmen von Mozart, Haydn oder Brahms. Geradezu exemplarisch demonstriert Seemann als Bach-Interpret, wie der Martienssens Lehren verinnerlicht hat, etwa im Adagio der Toccata in D-Dur BWV 912 – der Übergang von der Einleitung zur Fuge, für die Bach die Spielanweisung “con discrezione” (mit Zurückhaltung) notiert hatte.

Völlige Ausgewogenheit im Zusammenspiel

Großen Raum nehmen die kammermusikalischen Aufnahmen ein, darunter Beethovens vollständige Sonaten für Klavier und Violine, sämtliche Klaviersonaten Mozarts und etliche von dessen Violinsonaten. Seemann realisierte sämtliche dieser Aufnahmen mit einem der damals bedeutendsten Geiger: Wolfgang Schneiderhan. Beide Musiker verband eine enge künstlerische Partnerschaft. Das Duo Seemann/ Schneiderhan war, was die Aufführung der Sonaten Mozarts und Beethovens betraf, in den frühen 50er Jahren maßstabgebend. Herausragend auch die Aufnahmen der Violinsonatinen Franz Schuberts sowie dessen Sonate A-Dur. Von den drei späten Violinsonaten Robert Schumanns nahmen Schneiderhan und Seemann die berühmte erste Sonate a-Moll op. 105 auf – Schumann hatte sie in nur wenigen Tagen im September 1851 komponiert. Die am 18. Dezember 1955 in Hannover entstandene Aufnahme ist an Intensität und Lebhaftigkeit kaum zu übertreffen. Hier wie bei allen Aufnahmen, darunter auch der drei Violinsonaten von Johannes Brahms, ist die völlige Ausgewogenheit im Zusammenspiel, das gegenseitige Gleichstellen beider Musiker zueinander, schlicht atemberaubend.  
Carl Seeberg wird in der Box auch als Interpret moderner Werke präsentiert, etwa Wolfgang Fortner, Karl Amadeus Hartmann oder Giselher Klebe. Dass er diese wie auch die Musik von Paul Hindemith und Béla Bartók einspielte, war Ausdruck seiner Überzeugung, den zeitgenössischen Komponisten eine Stimme geben zu müssen.
Eine bereichernde Ergänzung findet sich im Booklet der Box: es ist der Wiederabdruck eines Beitrags, den Joachim Kaiser 1999 über das Vermächtnis Carl Seemanns geschrieben hatte. All denen, deren Bild des Pianisten Carl Seemann “unterbelichtet” erscheint, helfen Kaisers Einordnungen, das musikalische Erbe Seemanns, das diese herrliche, jetzt veröffentlichte Edition so umfassend offeriert, im rechten Licht neu erstrahlen zu lassen.  

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