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“Das neue Werk” – Des Jubiläums zweiter Teil

02.04.2001
50 Jahre “Das neue Werk” – 50 Jahre Neue Musik in Hamburg. Dieses Jubiläum würdigt der NDR mit dem dreiteiligen Konzertzyklus “Zwischen den Zeiten”.
Teil zwei (Konzerte am 21. und 23. März) stand ganz im Zeichen der lebenden Komponisten- und Dirigentenlegende Pierre Boulez, der schon öfter im Rahmen der NDR-Reihe eingeladen war, wenn es etwas zu Feiern gab: zum 50. Konzert 1958 wurden seine “Improvisation sur Mallarmé” uraufgeführt, zur 100. Veranstaltung 1966 fand ein ganzes Programm unter der Leitung des Dirigenten statt. Letzte Woche stand er wieder am Pult des Rolf-Liebermann-Studios. Für das hohe Niveau der Konzerte garantierte diesmal das Ensemble Intercontemporain, das Boulez 1976 gründete.
 
Seine Persönlichkeit als Leiter des Ensembles offenbarte sich gleich zu Beginn des Konzerts bei seinen Kompositionsstudien “Dérive I & II” für Kammerensemble. Das rhythmisch bewegte “Dérive II” für elf Instrumente erfordert ein Dirigat wie ein Uhrwerk, doch das Reaktionsvermögen des Ensemble Intercontemporain macht große Gesten unnötig. Seine Einsätze kommen legère, aber präzise. Diese zurückhaltende Art mag angesichts seiner bewegten Vergangenheit überraschen, deutet jedoch keinesfalls darauf hin, daß Boulez sich auf seinen Lorbeeren ausruht. Besonders als Bindeglied zwischen Neuer Musik und Publikum legt er ein vorbildliches Engagement an den Tag. Menschen für Neue Musik zu begeistern, sei wie Sisyphos-Arbeit, so der sympathische Franzose: “Man muß den Stein immer wieder hochrollen”. Boulez und sein Ensemble stellen sich dieser Aufgabe ohne elitäres Gerede, statt dessen lassen sie Taten sprechen, leisten beispielsweise aktive pädagogische Arbeit in Schulen.
 
Zu dieser umfassenden Vermittlungstätigkeit gehört vor allem, Werke der jüngeren Vergangenheit immer wieder live erfahrbar zu machen, denn nirgendwo ist der Unterschied zwischen Konzert und Konserve so groß wie im Bereich der zeitgenössischen Musik. An diesem Abend dirigierte Boulez die “Passacaille pour Tokyo” des Franzosen Philippe Manoury, Jahrgang 1952. Eine Art Ostinato-Orgelpunkt fungiert in der Komposition für Klavier und siebzehn Instrumente als Zentrum und Achse, an der sich die Stimmen verzerrt und schemenhaft spiegeln. Pianist Hidéki Nagano meisterte den anspruchsvollen Klavierpart beherzt und leidenschaftlich.
 
Optischer und akustischer Höhepunkt des Konzerts war Boulez jüngste Komposition “Sur Incises” (1996/98) für drei Klaviere, drei Harfen und drei Schlagzeuger. Die imposanten Saiteninstrumente standen “in bunter Reihe” nebeneinander, dahinter hatten sich die Schlagzeuger mit ihren Xylophonen, Steel-drums und Glocken postiert. “Sur Incises” ist eine zeitliche wie klangliche Ausdehnung eines kleineren Gebildes: der Komposition “Incises” (1993/94) für Klavier solo, das am Freitag auf dem Programm stand und so die beiden Veranstaltungen miteinander verklammerte. Mit viel Applaus und großen Erwartungen auf die Fortsetzung endete das Konzert am Mittwoch.
 
Zwei Tage später, Freitag abend kurz vor acht Uhr: Wann gab es in Hamburg zum letzten Mal mehr Interessierte an Neuer Musik, als ins Studio in der Oberstraße passen? Ein schönes Lob für Veranstalter und Künstler gleichermaßen.
 
Als Wachmacher erklang “Intégrales” von Edgard Varèse, das in Boulez Geburtsjahr (1925) entstand. Hier zeigte sich wieder seine Art, das Ensemble zu führen: Soviel Bewegung wie nötig und so wenig wie möglich. Anschließend kamen die Konzertbesucher in den Genuß der brandaktuellen Auftragskomposition des Ensemble Intercontemporain. Wolfgang Rihms (*1952) “Die Stücke des Sängers” von 2000/2001 ist ein düsteres, schweres Stück Musik, das viel Assoziationsspielraum bietet. Wieder kam die Harfe groß raus, allerdings in ungewohnter Manier. Solistin Frédérique Cambreling griff oft ins tiefe Register ihres Instruments und bearbeitete die Saiten hart und ruppig.
 
Mit den “Improvisation I & II sur Mallarmé”, die ihre Uraufführung 1958 im Rahmen der NDR-Reihe erlebten, wurde an die “alten Zeiten” des “Neuen Werkes” erinnert. Vielleicht war die etwas matte Tongebung der Mezzosopranistin Valdine Anderson Geschmackssache, zweifellos machte ihre souveräne Gestaltung der syllabischen und ornamentalen Textkonturen die Strophen zu einem intensiven Klangerlebnis.
 
Nach der Pause ging es mit solistischen Werken von Boulez weiter. “Incises”, die Zelle von “Sur Incises”, wurde von einem weiteren erstklassigen Pianisten des Ensembles, Dimitri Vassilakis, dargeboten. Mit langem Beifall feierte man seine Gestaltung der komprimierten Partitur.
 
Boulez Komposition “Anthèmes II” für Violine und Live-Elektronik von 1997 brachte seinen Besuch in Hamburg zum krönenden Abschluß. Per Mausklick will Boulez das Spektrum der traditionellen Instrumente ergänzen und spieltechnische Grenzen durchbrechen. Aber ohne die “echte” Geige, ohne den virtuosen Vortrag der Violinisten Jeanne-Marie Conquer wäre seine Musik nicht möglich. So verbindet er die Alte Kultur interaktiv mit der Neuen. Andrew Gerzso, Leiter des Ircam (Institut de recherche et coordination acoustique/musique) in Paris, sorgte für den Effekt mit den im Raum verteilten Lautsprechern, der das Publikum bis zum Schluß des Werkes gefangen nahm. Gebannte Stille im abgedunkelten Saal mündete in Beifall und Begeisterung für einen außergewöhnlichen Dirigenten und einen Komponisten, der der Neuen Musik stets wichtige Impulse verlieh und das auch weiterhin tun wird.
 
Der Konzertzyklus endet mit den Feierlichkeiten zum 75. Geburtstag von Hans Werner Henze am 29. und 30. Juni 2001.

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