Ludwig van Beethoven | News | Versuch einer Annäherung – Pierre Henrys Remix von "The Tenth"

Versuch einer Annäherung – Pierre Henrys Remix von “The Tenth”

Pierre Henry
© Decca
28.11.2019
Die Auseinandersetzung mit der Musik Beethovens stand gleich zweimal im Fokus des Schaffens des französischen Komponisten Pierre Henry. Bereits als Zehnjähriger ging Henry ans Pariser Konservatorium, um dort bei Nadia Boulanger und Oliver Messiaen zu studieren. Er begann bereits sehr früh, mit elektronischer Musik zu experimentieren, sie als ein ihm gemäßes Ausdrucksmittel zu entdecken. 1960 gründete Henry sein eigenes Studio für elektronische Musik. Die gemeinsam mit Pierre Schaeffer komponierte “Symphonie pour un homme” (1949–50) machte bei ihrer Uraufführung als erstes signifikantes Werk in dieser Richtung Schlagzeilen: keine Partitur, stattdessen Klangcollagen aus verschiedenen zusammengemixten Schallplattenaufnahmen. Was damals als “Musique concrete” den Musikbetrieb revolutionierte – eine Kompositionstechnik, bei der mit gespeicherten Klängen ohne Notation komponiert wird – ist im heutigen Musikbetrieb normal und macht die Trennung zwischen sogenannter “U-Musik” und der “E-Musik” hinfällig. Unfreiwillig ist Henry damit zu einem der Urväter des Techno geworden – heute ist das Samplen von Klängen und Musik, das Aufbrechen bestehender musikalischer Strukturen und Neuzusammenfügen gängige musikalische Praxis.

Ein radikal neuer Klangdiskurs

Ganz im Sinne der Musique concrete, bei der auch die Trennung von Komponist und Interpret aufgehoben wird, schuf Pierre Henry 1979 “La Dixième” (“Die Zehnte”). Damals ging es ihm darum, Beethovens Sinfonien zu destrukturieren und in den verschiedenen einzelnen Bausteinen musikalische Zusammenhänge zu finden, um sie zu etwas Neuem zusammenzufügen. Sein Handwerkszeug für diese Arbeit waren nicht etwa der Flügel, die Partitur und Stifte – sein Instrument war das Mischpult. Die erste Fassung von “Beethovens Zehnter”, war am 25. Oktober 1979 in der Bonner Beethovenhalle aufgeführt worden.
19 Jahre später entstand der “Remix – The Tenth”, der beim Montreux Jazz Festival am 4. Juli 1998 Premiere hatte. Für Pierre Henry war es der Versuch, “… einen radikal neuen Klangdiskurs voranzutreiben.” Der “Tenth”-Remix sei eine zehnte Symphonie, entstanden aus Mitteln, “… die mir heute eigen sind: eine Rhythmik, die schneller ist, mit Beats, elektronischen Trances, phasenverschobenen Lichtblitzen, sich ständig ändernden Filtern, zusätzlichen Frequenzen und überlagertem Nachhall.”

Mit Beethovens Ohren

Man kommt dem Remix von “The Tenth” am besten bei, wenn man ihn als Versuch hört, die Künstlerpersönlichkeit Beethovens in all ihrer Vielschichtigkeit und Dramatik zum Ende seines Lebens erlebbar zu machen, das von seiner Ertaubung gekennzeichnet war. Wer jemals das “Heiligenstädter Testament” gelesen hat, das Beethoven in einem Akt der Verzweiflung  am 6. Oktober 1802 schrieb, und in dem er meinte, als Komponist und Musiker Abschied von der Welt nehmen zu müssen, bekommt eine Ahnung von der wahrlichen Kraft des Komponisten – unter den vielen Werken, die er trotz fortschreitender Ertaubung noch komponierte, waren zwei der Klavierkonzerte, das Tripelkonzert, die “Missa Solemnis” sowie sieben seiner Sinfonien, darunter die Neunte!
In Pierre Henrys zehnsätzigem Werk begegnen uns denn auch Motive, Splitter und Passagen, vor allem aus der Neunten – wie hinter einer Wand aus Klängen und Sounds, die wir als “heutig” einordnen können. Etwa wie im vierten Satz der “Tenth”, dem Henry den Namen  “Faintaisie flipper” gegeben hat. Nach der Introduktion, einer Collage aus Rummelplatz, Flippersalon und Kindergeschrei setzt hinter einem Rauschen die Vorbereitung des Motivs im vierten Satz der Neunten durch die Kontrabässe ein, das sich nach der dissonanten Einleitung des Satzes durch die Bläser entwickelt und aus dem dann jenes berühmte “Oh Freunde nicht diese Töne” erwächst. An keiner Stelle jedoch gibt es einen direkten Zugang zum musikalischen Material Beethovens. Alles wird gebrochen, überlagert durch Klänge und Toncollagen. So mochten sie vor Beethovens innerem Ohr aufeinandergeprallt sein – die Ideen seiner Musik, die Scherben seines Seelenspiegels und die Klänge der Welt da draußen.

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