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Seelenverwandte – Andris Nelsons interpretiert Schostakowitsch

Andris Nelsons
© Marco Borggreve / DG
30.07.2015
Schostakowitsch ist für Andris Nelsons nicht irgendein Komponist. Der lettische Stardirigent betrachtet den russischen Komponisten als einen Seelenverwandten.

Empfindsamer Charakter

Das schüchterne Wesen Schostakowitschs, seine geheimnisvolle Musik und nicht zuletzt die großartigen Harmonien des ebenso romantischen wie modern vorpreschenden Komponisten – all das liebt Nelsons an dem russischen Komponisten, mit dem er sich schon lange tief verbunden fühlt. Der lettische Dirigent macht dafür auch biographische Gründe geltend. Er ist, wie Schostakowitsch, in der Sowjetunion aufgewachsen. Sein erstes Lebensjahrzehnt gehört noch der Epoche an, als Lettland keine selbständige Nation war, sondern Teil des kommunistischen Großreiches.
Andris Nelsons wird 1978 in Riga geboren, der damaligen lettischen Sowjetrepublik. Der hochbegabte Sohn einer Musikerfamilie studiert zunächst Trompete an der Emil-Dārziņš-Musikfachschule des Lettischen Konservatoriums. Hier sammelt er bereits erste Dirigiererfahrungen. Bald erkennt der junge Mann, wie sehr ihm diese Tätigkeit liegt. Es folgen Studien an der lettischen Musikakademie, bevor er nach Sankt Petersburg wechselt, um am dortigen Konservatorium Rimsky-Korsakow bei Alexander Titow seine außerordentlichen Begabungen zu verfeinern.

Internationale Bilderbuchkarriere

Sankt Petersburg, damals noch Leningrad, ist auch die Heimatstadt von Dmitri Schostakowitsch, und Andris Nelsons spürt, dass der Geist des Komponisten hier noch weht. Mit großer Lust und Faszination atmet er die schöpferische Atmosphäre am Konservatorium Rimsky-Korsakow ein, wo auch Schostakowitsch studiert und später als Professor gewirkt hat. Nelsons macht rasante Fortschritte beim Dirigieren und legt in der Folge eine internationale Bilderbuchkarriere hin, die mit zwei Preisen der Deutschen Schallplattenkritik und dem Antritt des Chefdirigentenamts beim Boston Symphony Orchestra ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht.
Seit der Spielzeit 2014/2015 ist Andris Nelsons erst in Boston, und mit “Shostakovich under Stalin’s Shadow” veröffentlicht er jetzt ein Album, das den Klangkörper des US-amerikanischen Traditionsorchesters gleich voll ausreizt. Die Aufnahmen haben es in sich. Sie entfalten mit sublimer Leidenschaft die bebende Musik Schostakowitschs. Dass der schillernde Komponist unter dem Sowjetregime litt, ist weithin bekannt. Aber auf dem Album spürt man auch, wie Schostakowitsch seine persönliche Gefühlssphäre und die sprudelnde Ausdruckslust seiner Kunst gegen die Diktatur zu behaupten wusste.     

Orchestrale Hochspannung

Das Album enthält Schostakowitschs Passacaglia aus dem zweiten Akt der Oper “Lady Mabeth of Mtsensk” und die “Sinfonie Nr. 10 in e-Moll” (Op. 93). Für seine Oper zahlte Schostakowitsch einen hohen politischen Preis. Das moderne, dunkle Moment des hochgespannten Werkes stieß auf entschiedene Ablehnung des Sowjetregimes. In einer Besprechung, die mutmaßlich von Stalin selbst in Auftrag gegeben wurde, bemängelt der Autor die “disharmonische, chaotische Flut von Tönen”. “Chaos statt Musik” titelt die Prawda den Aufsatz. Doch was hier als chaotisch diffamiert wird, ist in Wahrheit eine elektrisierend dramatische Musik.
Andris Nelsons birgt diese filmisch anmutende Orchestermusik Schostakowitschs, die eine regelrechte Sogwirkung auslöst. Nicht minder eindringlich interpretiert der lettische Dirigent Schostakowitschs zehnte Sinfonie, in der die geballte Kraft und harmonische Farbvielfalt des Boston Symphony Orchestra zur Geltung kommt. Diese wilde, überaus kontrastreiche Sinfonie, die der Komponist im Todesjahr Stalins abschloss, wird hier in all ihren Dimensionen lustvoll ausgeleuchtet. Das weiche, poetische Moment und die explosive, dramatische Kraft des russischen Komponisten treten dabei in eine Hochspannung, der man sich kaum entziehen kann.
“Shostakovich under Stalin’s Shadow” bildet den Start einer Serie von Schostakowitsch-Aufnahmen, die der junge lettische Maestro in den kommenden Jahren mit dem Boston Symphony Orchestra in Angriff nehmen wird. Für 2016 sind die Sinfonien Nr. 5, 8, 9 sowie die Filmmusik zu “Hamlet” (Regie: Grigori Kosinzew, 1963/64) geplant. Für 2017 stehen die Sinfonien Nr. 6 und 7 auf dem Programm. Man darf jetzt schon gespannt sein. Das Startprojekt weckt jedenfalls hohe Erwartungen.