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Andreas Scholl – Tagebuch

01.08.2001
Zur Zeit ist Andreas in New York, um seine neue CD aufzunehmen, und hat netterweise die Zeit gefunden, uns die aktuellste Seite seines Tagebuchs zu schicken.
Ich weiß, ich weiß; ich hatte versprochen, ein Update aus New York zu schreiben während der Aufnahme. Aber es gab so viel zu tun, dass ich keine Zeit hatte, etwas zu schreiben, und dazu Fotos auzusuchen.
 
Am Dienstag war die erste Probe mit den “Principals” des Orpheus Chamber Orchestra. Das heißt, nur die Stimmführer jeder Instrumentengruppe waren dabei. Mit dem Produzenten und Bearbeiter des Albums, Craig Leon, spielten wir jedes Stück einmal durch. Diese Probe bereitet das ganze Orchester vor, ohne dass alle Spieler dabei sein müssen. Die Stimmführer erklären später den anderen Musikern, was bei dieser Probe verabredet wurde. Zum ersten Mal bekamen wir einen Eindruck, wie die Musik zusammen mit der Instrumentierung klingt. Am Ende des Tages war ich ziemlich erschöpft. Besonders weil wir an nur einem Tag die Musik für drei Aufnahmetage durchgegangen waren.
 
Am nächsten Tag um 8:30 wurden die Lautenistin Edin Karamazov und ich abgeholt und zur SUNY (State University of New York) gefahren. Dort sollte die Aufnahme in einem Kammermusiksaal stattfinden. Um 10 Uhr morgens fing die erste Session mit einem Soundcheck der ganzen Aufnahmeausstattung an. Die Mikrofone jeder Instrumentengruppe wurden getestet und die Balance überprüft. Ich stieg in meine Plexiglas-Zelle, in der ich während der nächsten zwei Tage viel Zeit verbringen würde. Auf dem Foto sieht man diese ziemlich komplizierte, “hausgemachte” Konstruktion. Sie wurde von unseren Toningenieuren Charles Harbutt und Todd Whitelock gebaut. Die Zelle ermöglicht mir, direkt vor dem Orchester zu singen, ohne dass meine Stimme die Mikrofone des Orchesters stört und umgekehrt. Im Jazz und Pop ist es üblich, solche Zellen zu verwenden. Der Toningenieur hat so während des Mischprozesses mehr Kontrolle über den Klang der Aufnahme, weil Solostimme und Orchester separat aufgenommen werden. Die gesamte Klangbalance wird kontrolliert durch zwei Hauptmikrofone, die sich ungefähr vier Meter über dem Orchester befinden.
 
Charles und Todd brachten ein paar echte Goldstücke mit, um meine Stimme aufzunehmen: Ein Neumann M−47 Großmembran-Röhrenmikrofon und ein AKG C−12VR (gleiche Art). Die Kontra-Tenorstimme ist sehr obertonreich und hat dadurch ihre besondere Qualität. Die meisten Mikrofone haben ein sogenanntes “presence lift”. Das bedeutet, dass sie die hoch-mittel Lage der Frequenzen etwas verstärken, damit der Klang an Brillanz und Transparenz gewinnt. Auf meine Stimme wirkt sich dieses “Lift” eher negativ aus, insofern als die Stimme durch das Mikrofon aggressiver klingt, weil die schon sehr starken Obertöne noch mehr verstärkt werden. Das klingt kompliziert? Um es einfacher auszudrücken: Es ist sehr schwierig, ein weichklingendes Mikrofon für meine Stimme zu finden. Aber zum Glück war das M−47 mit seinem schönen, weichen Röhrenklang einfach perfekt!
 
Es ist wirklich eine Kunst, den richtigen Klang und die Balance zwischen Orchester, Solostimme und Raumakustik zu finden. Ein guter Toningenieur versteht es, die Gesamtleistung der Musiker mit einem natürlichen, detailreichen Klang zu steigern. Zum Glück hatten wir Charles Harbutt, einen der Besten. Er produziert nicht nur Klassische-, sondern auch Jazz- und Filmmusikaufnahmen und hat schon in allen drei Genres “Grammys” gewonnen! Wie sie vielleicht schon wissen, habe ich zu Hause in Basel ein Tonstudio, das ich für meine eigenen Popaufnahmen nutze, und verstehe ein wenig von der Aufnahmetechnik. Glauben sie mir, ich habe schon erlebt, dass ein Toningenieur beinahe die ganze Leistung der Musiker durch eine schlechte Klang-Balance zunichte gemacht hat, weil er zum Beispiel einen Sologeiger ganz vorne spielen ließ, während der Sänger weit entfernt klang. Wenn eine CD gut sein soll, dann müssen alle Faktoren, wie zum Beispiel Repertoire, Musiker, Verwaltung, Aufnahmeort, Toningenieur und sogar Grafikdesigner von gleicher Qualität sein. Wenn auch nur eine Komponente schwach ist, dann leidet das ganze Projekt.
 
Beim Anblick unserer Aufnahmeausstattung fühlte ich mich wie ein Kind an Weihnachten. Wir hatten von Sony den modernsten digitalen Mischtisch und nahmen in 24bit 96khz Qualität mit einem 24-track “Radar” harddisc Aufnahmesystem auf. Die Mikrofone für das Orchester waren zusammengestellt aus “Schoeps” kleinmembran Kondensator-Mikrofonen, die nah an den Instrumentengruppen aufgestellt waren, und “Bruel & Kjaer” Mikrofonen, die weiter weg plaziert waren. Diese Kombination habe ich schon des öfteren erlebt. Die Schoeps Mikrofone sind etwas wärmer in der Klangwiedergabe und deshalb gut geeignet für eine sehr direkte Aufstellung, ohne dass der Klang aggressiv oder scharf wird. Die “Bruel& Kjaer” Mikrofone sind extrem genau und transparent in ihrerTonreproduktion und eignen sich daher für eine besonders realistische Wiedergabe der Instrumente und der Atmosphäre des Konzertsaales.
 
Mit diesem wahren high-end Equipment und unseren hervorragenden Toningenieuren Charles und Todd gelang es uns, den Klang in bester Weise aufzunehmen. Es war ein ganz besonderes Erlebnis für mich, als ich zum ersten Mal einen Ausschnitt aus “Wild mountain thyme” mit dem ganzen Streicherapparat von “Orpheus” hörte. Ich kann es nur als “BREITWAND” Klang beschreiben. Ich bekam eine Gänsehaut in dem Moment!
 
Die Bearbeitung der Lieder, die wir verwendet haben, sind dem Geist des Folksongs treu geblieben (die Melodien und die Reihenfolge der Strophen hatte Craig nicht geändert) und steigerten diesen mit einem mehr modernen als historischen Klang. Für die Aufnahmen wurden keine authentischen Instrumente verwendet. Die Folksongs wurden als mündliche Überlieferung von Generation zu Generation weitergegeben. Jede Generation hatte ihre eigene Art sie zu singen und zu spielen; manchmal mit Lauten und Harfen, später mit Cembalo, Klavier oder Gitarre. Craigs Bearbeitung bewahrt das Gefühl von “Neuschaffung” für unsere Generation und versucht nicht mittelalterliche oder Renaissance-Fassungen nachzumachen.
 
Das Ergebnis ist wunderbar. Diese Songs sprechen eine wahrhaftig tief und ehrliche Sprache, die uns berührt durch ihre Schlichtheit. Schon vor Jahren hatte ich die Magie der English Folksong gefühlt, als ich sie zum ersten Mal im Konzert sang und gespürt habe wie das Publikum bezaubert war von den Geschichten, die die Songs erzählen. Ich liebe auch meine Alfred Deller Platten “West Wind” und “The Three Ravens”, die immer eine Inspiration für mich waren und mir den Mut gegeben haben, eine moderne Aufnahme von Folksongs zu machen. Ein Traum, den ich endlich verwirklichen konnte. Nach den ersten zwei Tagen bei SUNY hatte ich einen Tag Pause,den ich wirklich brauchte! Die mentale Konzentration, die von einem Sänger erwartet wird, wenn “das rote Licht an ist” kann auch körperlich ziemlich anstrengend sein. Manchmal denke ich: “Alles was du jetzt singst, kann und wird gegen dich verwendet werden…” und bleibt auf dieser CD bis zu dem Tag, an dem sie aus den Regalen genommen wird. Das heißt, ich muß alles geben, wenn das rote Licht an ist.
 
Am Sonntag sollten die zwei Songs mit Lauten- und Harfen-Begleitung aufgenommen werden: “Annie Laurrie” und “She moved through the fair”. Die Harfenistin Stacey Shames begleitete Edin und mich mit der Harfe. Stacey hatte eine sehr wichtige Rolle bei der Aufnahme beim “Orpheus”, da sie beinahe bei jedem Lied dabei war. An diesem Tag funktionierte einer von den “Radar Multi-Track Recorders” plötzlich nicht mehr. Todd und Craig brauchten drei Stunden, um ihn wieder in Ordnung zu bringen. Nach der unerwarteten Pause nahmen wir die beiden Lieder zweimal auf und hatten damit eine gute letzte Version von beiden Liedern. Danach ließen wir den Sonntag gemeinsam mit einem wohlverdienten köstlichen italienischen Essen ausklingen. Schon am nächsten morgen saß ich im Flugzeug auf dem Weg nach London zum Fotoshooting für diese CD.
 
Ich kann es kaum erwarten, die erste End-Version der CD in meinen Händen zu halten. Sicher ist diese CD eher aussergewöhnlich für mich, wenn man sie mit meinen bisherigen CDs vergleicht. Aber es war für mich die Verwirklichung eines alten Wunsches und eine große Freude, diese Songs mit dem Orpheus Chamber Orchestra zu singen. Ich hoffe, dieser kleine Bericht gibt Ihnen einen Eindruck, wie eine Aufnahme von höchster Qualität bei Decca produziert wird. Die technische Qualität der Aufnahmen ist bei dieser Plattenfirma immer legendär gewesen. Die Arbeit und Anstrengung bis ins kleinste Detail sowie das Verständnis von Musik, den Musikern, der Struktur und des Klanges, gepaart mit dem Enthusiasmus von allen Mitwirkenden, zeigt den klaren Unterschied zwischen einer Aufnahme von Decca und sogenannten “Low-budget” Aufnahmen.
 
Also, wenn Sie die Gelegenheit haben: Machen Sie die Ohren auf und hören Sie den Unterschied!
 
Beste Grüße, Andreas

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