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Poesie der Zwischenräume – Jörg Widmann und András Schiff mit den visionären Klarinettensonaten von Johannes Brahms

Jörg Widmann, András Schiff
Fritz Etzold / ECM Records
30.09.2020
Eigentlich wollte er nicht mehr komponieren. Seine Zeit schien vorbei, sein Werk abgeschlossen. Da lernte Johannes Brahms den Klarinettisten Richard Mühlfeld kennen, dessen Spiel ihn so sehr in Bann zog, dass er wieder zur Feder Griff. Im Jahre 1891 schuf er sein Klarinettentrio und sein Klarinettenquintett. 1894 folgten die beiden Klarinettensonaten op. 120, deren poetische Aura von so reduzierter und schwebender Gestalt ist, dass sie in ihrer Modernität noch heute Staunen erregen. Dasselbe gilt für die Klavierwerke, die Brahms wenige Jahre vor seinem Tod schuf und deren abschiedliche Stimmung wie ein Hauch daherkam. Wie passten diese Exponate zu dem Bild eines Mannes, der in der Musikwelt als Traditionalist galt? Brahms hatte sich von der Neudeutschen Schule um Richard Wagner unbeeindruckt gezeigt. Er hielt an klassischen Formen fest. Seine Modernität kam auf leisen Sohlen daher, wurde aber von Feingeistern des 20. Jahrhunderts wie Arnold Schönberg und Theodor W. Adorno früh schon erkannt.
Die späten Klavierwerke von Johannes Brahms haben den Münchener Komponisten und Klarinettisten Jörg Widmann dazu inspiriert, eigene Intermezzi zu verfassen, die der “verstörenden Reduktion und lapidaren Kürze” des späten Brahms nachlauschen möchten. Widmann schrieb die Intermezzi für den Pianisten András Schiff, mit dem er seit Jahren befreundet ist und die Klarinettensonaten von Brahms zahllose Male aufgeführt hat. Was lag da näher, als die Klarinettensonaten von Johannes Brahms und die Intermezzi von Jörg Widmann auf einem Album zu vereinen und so eine Klanglandschaft entstehen zu lassen, die neben den abschiedlichen Stimmungen des späten Brahms auch die knapp 120 Jahre danach erfolgte Resonanz des Münchener Komponisten zum Vorschein bringt? 
Magie des Hauches
Ein solches Album ist jetzt bei ECM New Series in München erschienen. Produziert von Manfred Eicher, aufgenommen im Historischen Reitstadel der oberpfälzischen Kreisstadt Neumarkt, gelingt es dem Projekt auf musikalisch nachfühlbare Weise, die langen Linien von den poetischen Klangempfindungen des späten Brahms bis hin zu Jörg Widmanns eigenwilliger, jazzige Dimensionen streifender Reaktion zu ziehen. Dazu trägt neben dem meditativen Fluss der Musik auch die intime Akustik des Reitstadels bei. Der dortige Klangraum erzeugt klare Konturen, öffnet sich aber auch in die Tiefe. Wenn man die Klarinettensonaten hört, steigt man in die Höhlen der Geschichte hinab. Es ist, als wehten einem diese merkwürdig leichten, melancholisch versetzten Klänge von Ferne an, und der Raum und die Solisten wären die Mittler, die den Zuruf des widersprüchlichen, lakonischen Romantikers Johannes Brahms hörbar machen. 
Jörg Widmann reagiert mit seinen Intermezzi auf den quasi-impressionistischen Zuruf von Johannes Brahms. Es ist eine empfindsame, eine hochaufmerksame Reaktion, die das Brahmssche Erbe aufnimmt, mit dem Lebensgefühl des 21. Jahrhunderts anreichert und zu etwas Eigenem verwandelt. András Schiff, der Poet unter den Klaviervirtuosen der Gegenwart, lotet mit seinem geschickten Einsatz des Pedals und seinem hauchzarten Anschlag die Zwischenräume von Widmanns Miniaturen diskret aus. Genau darum geht es dem Münchener Komponisten, um Intermezzi, Zwischenspiele im wörtlichen Sinne: “Das Geheimnis nach einem Klingen”, so Widmann, “auch das antizipierende Vor-Klingen – der Raum dazwischen macht für mich das Wesen von Musik aus. Also: Intermezzi.” 

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