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Der Überflieger – Yannick Nézèt-Seguin dirigiert Strawinsky und Tschaikowski

Yannick Nézet-Séguin
© Harald Hoffmann / DG
18.09.2013
Es war ein Skandal. Am 29. Mai 1913 war im Pariser Théâtre des Champs-Élysées nicht klar, ob die laufende Uraufführung am Haus tatsächlich bis zu Ende gespielt werden konnte. Immer wieder unterbrachen Zwischenrufe und Pfiffe das Programm. Man fürchtete Ausschreitungen des sonst so toleranten Premieren-Publikums. Grund der Aufregung war „Le Sacre du Printemps“, ein Ballett des jungen Igor Strawinsky, dessen herbe, für romantische Ohren ungewohnt raue Musik und heidnische Thematik von den Zeitgenossen als Provokation empfunden wurde.
Heute weiß man, dass hier eines der Grundlagenstücke der musikalischen Moderne präsentiert wurde, das wenige Jahrzehnte später den Weg in den Kanon gefunden haben würde. Spätestens von dem Zeitpunkt an, als die Ausdruckstänzerin Mary Wigman 1957 bei den Berliner Festwochen die bisherigen, am heidnisch orgiastischen Inhalt orientierten Inszenierungen von Vaclav Nijinski und den Ballets Russes zugunsten einer freieren Interpretation öffnete, wurde „Le Sacre Du Printemps“ als ein Eckpunkt und Katalysator der musikalischen Moderne akzeptiert.
Die ewigen Herausforderungen
Ähnliches gilt für Pjotr Tschaikowskis letzte Symphonie „Pathétique“, die ebenfalls auf lange Sicht triumphierte, bei ihrer Uraufführung, die der Komponist am 28. Oktober 1893 persönlich in St.Petersburg dirigierte, vom Publikum wenig enthusiastisch aufgenommen wurde, vielleicht auch deshalb, weil der Schlusssatz nicht in ein aufbrandendes Finale mündet, sondern eher ruhig, nachdenklich ausklingt. Für Dirigenten jedenfalls gelten die beiden Werke als ewige Herausforderungen, haben sie doch mit ihren gestalterischen Eigenheiten viel Freiraum für Interpretation zu bieten. Den wiederum weiß Yannick Nézèt-Seguin gekonnt auszufüllen.
Denn der kanadische Maestro ist unter den jungen Pultstars der Gegenwart einer der aktivsten. Er leitet das Philadelphia Orchestra, das Rotterdam Philharmonic Orchestra, ist nun drei Jahre lang “Artist In Residence“ am Konzerthaus Dortmund und macht noch lange nicht den Eindruck, vollständig ausgelastet zu sein. Deshalb verwundert es auch nicht, dass er nach seinen Arbeiten etwa mit dem Klarinettisten  Andreas Ottensamer (“The Clarinet Album“) oder auch der Gesamtaufnahme von Mozarts “Cosi fan tutte“ sich gleich mit seinen beiden Hauptorchestern präsentiert. Mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra widmet er sich Tschaikowskis “Symphony No.6, Pathétique“ und mit dem Philadelphia Orchestra Strawinskys “Le Sacre Du Printemps“.
Kontraste und Zugaben
Der Unterschied ist bemerkenswert. So gilt das Philadelphia Orchestra als im Kern romantisches Orchester, dessen Stärken etwa in der farbenprächtigen Ausgestaltung des Repertoires des 19.Jahrhunderts liegen. Hier nun Strawinsky mit “Le Sacre Du Printemps“ und der “Pastorale“ ins Programm zu nehmen und außerdem noch drei Orchesterbearbeitungen von Johann Sebastian Bach durch Leopold Stokowski hinzuzufügen, bringt das Ensemble in neue Gefilde, in denen es sich vollmundig bewährt.
Das Rotterdam Philharmonic Orchestra hingegen ist durchaus mit der Moderne vertraut, wird in diesem Fall aber mit einem der Gipfelstücke des Spätromantik betraut und erweist sich als herausragend transparent agierender Klangkörper. Darüber hinaus stimmt Yannick Nézèt-Seguin auch noch Tschaikowskis “Romanzen Nr. 6 und Nr. 73“ an, diesmal aber nicht als Dirigent, sondern als Pianist und Duo-Partner der hinreißend feintönenden Geigerin Lisa Batiashvili. Das heißt aber, dass sich hier nicht nur ein junger Maestro mit viel Zukunft  vorstellt, sondern ein Künstler von internationaler Ausstrahlung, dessen enorme Vielseitigkeit die Möglichkeiten seiner Schaffenskraft gerade erst erahnen lässt.

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