Sviatoslav Richter | News | Der genialische Wanderer

Der genialische Wanderer

10.10.2007
Wenn überhaupt zu einem Pianisten des vergangenen Jahrhunderts das Attribut “The Master” passte, dann zu dem 1915 im ukrainischen Schitomir geborenen Svjatoslav Richter. Unkonventionell in seiner ganzen Erscheinung, von den musikalischen Kompetenzen bis zu seiner Schüchternheit dem Publikum gegenüber, prägte er nicht nur die Vorstellung von Interpretation und Spielbarkeit an sich, sondern war auch einer der letzten Künstler einer gänzlich an den Mechanismen des Business uninteressierten Spieltradition, dem es vor allem um seine Kunst ging.
Das belegt auch die dritte Folge mit  Wiederveröffentlichungen von Richters Aufnahmen, die sich auf drei Doppel-CDs unter dem Signum “The Master” Werken von Johann Sebastian Bach, Robert Schumann, Johannes Brahms und Frédéric Chopin widmet. In seinen Anmerkungen im Booklet zu Volume 9 der Richter-Edition fasst der Musikologe und Journalist Umberto Masini das Phänomen Svjatoslav Richter in wenigen Sätzen zusammen: “Was gäbe es nicht alles über ihn zu sagen! Etwa über sein geistiges Spektrum, über den unglaublichen Charme seiner Konversation, über seine phantasievolle Art, sich mit seiner Stimme und seinen Gesten auszudrücken, die in der Luft ganze Landschaften, Gesichter, tiefgründige und mitfühlende Ideen hervorzauberten. Ich sagte, dass Richter immer unterwegs war, eigentlich ohne festen Wohnsitz. Jeden Tag gab eine fremde Stadt, eine neue Landschaft, ein anderer Hintergrund seinem Wanderleben eine neue Form. Bei diesem ständigen Umherziehen genoss der Maestro nur ein Privileg: ein Klavier, das ihm ein berühmter japanischer Fabrikant zur Verfügung gestellt hatte und das ihn überall hin begleitete. Man stelle sich aber nicht vor, es habe sich um ein besonderes Instrument gehandelt, wie es einige der ‘persönlichen’ Instrumente anderer berühmter Pianisten waren. Es besaß keine besondere Mechanik, wie jene, die schon bei geringster Berührung die Tasten niederdrückt, keine vorgefertigten Klänge und Klangfarben wie die Klavierversion einer Stradivarius.
 
Es war ein völlig normales Instrument mit neutralem Klang, makellos rein, wie eine leere Leinwand, auf der Svjatoslav Richter (Pianist, aber nicht zu vergessen, auch Maler) mittels einer großartigen Vielfalt von Pinselstrichen und mit seiner ganzen Farbpalette eine Phantasiewelt entstehen ließ: kraftvolle Farbtöne wie Hammerschläge, bizarre Linien, der besten Werke Picassos würdig, zarte, schimmernde Pastelltöne, wie die seiner Jugendbilder, die die Straßen von Moskau oder bleiche, vom Winterwind gebeugte Birkenwälder darstellen”. Richter, der Expressionist im unverfälschten Wortsinn, schaffte es dabei ein derart weites Spektrum der Stile abzudecken, das in den Folgen 7 bis 9 der Reihe “The Master” von den englischen Suiten von Johann Sebastian Bachs bis zu den Etüden von Frédéric Chopin, von den Klaviersonaten von Johannes Brahms bis zur “C-Dur-Fantasia” von Robert Schumann reicht. Die Aufnahmen entstanden live zwischen 1988 und 1994 unter anderem in Neumarkt und Bonn. Sie zeigen einen über alle Fragen der Aufführungspraxis erhabenen Interpreten, der die Musik der großen Komponisten zu der seinen macht, sie nach seinen Vorstellungen formt und veredelt und ihr eine Dimension verleiht, die auf ein ureigenes Universum des Verstehens und Spielens verweisen, an dem das glückliche Publikum der seltenen Konzerte teilhaben durfte und das zehn Jahre nach einem Tod nun auch die Hörer dieser betörend charismatischen Edition in den Bann ziehen wird.

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