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Audior – Gold zum Hören

02.04.2008
Bis vor noch nicht allzu langer Zeit herrschte im Konzertsaal das 19. Jahrhundert, nicht nur in der Auswahl des bevorzugt klassisch-romantischen Repertoires, sondern auch in den Vorstellungen von Interpretation, die es gerne bildungsbürgerlich pathetisch mit einer Nuance hindurchblitzender Genialität mochten. Diese Grundhaltung wurde auf alle musikalischen Phänomene angewandt, bis schließlich die Anhänger der historischen Aufführungspraxis einen Schlussstrich zogen und versuchten, die Musik soweit als möglich aus den Gelegenheiten ihrer Zeit heraus zu verstehen. Die Ergebnisse dieser Kehrtwende waren verblüffend und die Reihe Audior ruft diese Revolution im Detail in neuem, preiswertem Gewand in Erinnerung. Zwei Beispiele:
Die Quellenlage ist im Fall Ludwig van Beethovens besonders kompliziert. Das hat viele Gründe, sein mangelndes Interesse an den eigenen Autographen etwa, die ihn nach dem Druck kaum noch juckten. Oder auch die mit zunehmendem Alter immer unleserlicher werdende Handschrift, die die Forschung von Kopisten und deren Arbeiten abhängig macht. Oder auch die Dominanz der Gesamtausgaben der Symphonien von Breitkopf & Härtel aus den Jahren 1862 bis 1864 und deren Derivaten, die zwar für den Stand ihrer Zeit angemessen die Partituren edierten, allerdings aus der Perspektive der Spezialisten von heute zahlreiche Fehler bis hin zu partiell fehlenden Instrumentenstimmen enthielten. Der Beethoven der Romantik des 19. und mittleren 20. Jahrhunderts war daher ein korrigierter und zuweilen auch gezähmter Genius der Wiener Klassik. Dazu kam die rasante Entwicklung der Instrumente von der Böhmflöte und den Ventilen der Hörner bis zu modernen Geigensaiten und Paukenfellen, die den Klang der Musik nachhaltig veränderten.

Sir John Eliot Gardiner hatte daher viel Arbeit vor sich, als er eine historisch-kritische Einspielung der Beethoven-Symphonien unter möglichst originalgetreuen Vorgaben anstrebte. Der erste Schritt auf diesem Weg war 1990 die Gründung des Orchestre Révolutionaire et Romantique, das sich in Besetzung und Instrumentarium am jeweiligen Stand der Aufführungspraxis orientierte. Dazu kam ein intensives Studium der Vorlagen einschließlich zahlreicher Entdeckungen der Forschung wie etwa der 1984 in Privatbesitz wiedergefundenen Stichvorlage des Sechsten Symphonie. Gardiners Aufnahmen sollten dann ursprünglich im Anschluss an eine Japan-Tournee im Oktober 1992 entstehen, wurden dann aber in Studio- und Konzertversionen aufgeteilt. Tatsächlich hat sich die Mühe gelohnt. Denn Beethoven wurde unter Gardiners Leitung transparenter, deutlicher in der Gestaltung. Es handle sich daher, nach Meinung des Rezensenten des Fonoforums, um “schlicht umwerfende spieltechnische Perfektion, mit der Gardiners Orchestre Révolutionaire et Romantique hier aufwartet”, nachzuhören bei Audior mit den Sinfonien Nr.5 und Nr. 7.

Ebenfalls ein Pechvogel der Rezeption ist Georg Philipp Telemann, der Mann im Schatten von Bach.Für den Geiger, Orchesterchef und Musiktheoretiker Reinhard Goebel jedoch ist er ein Juwel, dem der umtriebige Virtuose der Gegenwart erst im Laufe der Jahre auf die Spur gekommen ist. Immerhin hat er selbst reichlich Erfahrungen mit historischer Aufführungspraxis gesammelt, bis er sich an eine Sammlung unterschiedlicher Konzerte, Sinfonien, Suiten und Sonaten des lange unterschätzten Komponisten wagte. Und bereits 1973 gründete Goebel mit Kommilitonen der Kölner Hochschule die Musica Antiqua Köln, die er durch Einspielungen mit Werken von Händel, Hasse, Biber oder Bach an die Spitze der internationalen Ensembles für Musik der frühen Neuzeit und des Barocks leitete. So klingt auch Telemann unter seiner Ägide lebhaft und authentisch, zuweilen sogar fröhlich unbeschwert, wenn es darum geht, eine im frühen 18. Jahrhundert ein wenig aus der Mode gekommene Courante anzustimmen, wie sie einst der Sonnenkönig so mochte. Aus dem trocken protestantischen Komponisten der vorherrschenden Deutung wird ein vielschichtiger Zeitgeistbeobachter, der die Trend seiner Epoche aufnahm, sie in die eigene Formensprache übertrug, ohne sich dadurch von seiner Personalstilistik zu entfernen. Ein Telemann, der sich ausgezeichnet in das Motto der Reihe Audior einfügt, Gold zum Hören zu bieten.

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