Semyon Bychkov | News | Tiefengrabungen bei Tschaikowsky – Semyon Bychkov und die Tschechische Philharmonie

Tiefengrabungen bei Tschaikowsky – Semyon Bychkov und die Tschechische Philharmonie

Semyon Bychkov
© Decca / Michal Sváček
28.08.2019
An Tschaikowsky scheiden sich die Geister. Den einen ist seine Musik zu gefühlsbeladen. Andere lieben gerade dies an ihm. Wiederum andere richten ihr Augenmerk auf die musikalische Komplexität des russischen Komponisten. Sie erblicken in der Formstrenge des Komponisten eine Chance, den hochemotionalen Charakter seiner Musik nicht in Sentimentalität abgleiten zu lassen, sondern ihn als feinen Ausdruck menschlicher Stimmungslagen erfahrbar zu machen. Zu diesen anspruchsvollen Bewunderern Peter Tschaikowskys zählt der russischstämmige Dirigent Semyon Bychkov. Ihm kommt der Verdienst zu, Tschaikowsky für das 21. Jahrhundert fit gemacht zu haben. Wo Bychkov am Pult steht, da vermittelt sich das große Gefühl des russischen Komponisten in einer den heutigen Hörgewohnheiten angemessenen Weise.
Die zwei bislang erschienenen Folgen seines ambitionierten Tschaikowsky-Projekts haben dies eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Mit seiner Fähigkeit, heftige Gefühlsekstasen in eine strenge musikalische Form zu bannen, stattete Bychkov Tschaikowskys Kompositionskunst mit einer ganz neuen Frische aus. Die Presse war begeistert. “Semyon Bychkov und die Tschechische Philharmonie verleihen Tschaikowsky Raum und Tiefe, ebenso wie Klangfülle und Atmosphäre, ohne jedoch auf die Spannung in Momenten hoher Dramatik zu verzichten”, hieß es etwa in der Financial Times.
Dies bewährt sich jetzt auch in dem schon mit Spannung erwarteten dritten Teil von Bychkovs beliebtem Tschaikowsky-Projekt. Der dritte Teil der Edition umfasst sieben CDs und enthält neben sämtlichen Sinfonien und Klavierkonzerten des russischen Komponisten auch die Fantasie-Ouvertüre “Romeo und Julia”, die Manfred-Sinfonie, die sinfonische Dichtung “Francesca da Rimini” und die Streicherserenade in C-Dur. Die bereits in 2016 und 2017 vorab veröffentlichten Aufnahmen sind nochmals enthalten, so dass der Klavierkonzert- und Sinfoniezyklus nun komplett vorliegt.
“The Tchaikovsky Project”: Lyrische Tiefengrabungen
Die Edition ist ein reicher Fundus an großartiger Musik. Die Interpretation der Sinfonien hat das Zeug zur Referenzaufnahme. Der weiche Klang der Tschechischen Philharmonie, der das Orchester weit über die Grenzen seiner Heimat hinaus bekannt gemacht hat, eignet sich hervorragend für die lyrischen Dimensionen von Tschaikowskys Musik. Langsame Sätze wie das klagende Finale der sechsten oder das mit sanfter Melancholie vorbeigleitende Andantino aus der vierten Sinfonie sind für das Traditionsorchester beinahe schon eine natürliche Angelegenheit. Jedenfalls klingen diese Sätze so, als hätte die Tschechische Philharmonie, die auf eine triumphale Geschichte mit Größen wie Gustav Mahler und Antonín Dvořák am Pult zurückblickt, nie etwas anderes gespielt.
Semyon Bychkov weiß um die Qualitäten seines Orchesters, dem er seit 2017 als Chefdirigent vorsteht. Er schätzt den ureigenen Geschmack des osteuropäischen Klangkörpers, der sich bei allem Stolz auf seine erfolgreiche Geschichte ein gehöriges Maß an Neugierde bewahrt hat. “Es sind viele junge Musiker im Orchester”, so Bychkov, “man spürt eine ungeheuer positive Frische. Sogar bei den Proben, ohne Publikum, spielen sie, als würde ihr Leben davon abhängen.” 
Diese Begeisterungsfähigkeit merkt man sämtlichen Aufnahmen der Edition an, insbesondere jedoch den drei Klavierkonzerten von Tschaikowsky, die zweifellos ein Highlight des dritten Teils von “The Tchaikovsky Project” bilden. Der sehnsuchtstrunkene Ton des Orchesters, der nie auf Kosten der klanglichen Ausgewogenheit geht, bietet dem russisch-amerikanischen Pianisten Kirill Gerstein eine ausgezeichnete Grundlage. Gerstein, der in seinen jungen Jahren vom Jazz geprägt wurde, bewegt sich tänzerisch frei auf dem komfortablen Klangteppich. Sein ebenso weich fließendes wie rhythmisch furioses Spiel besitzt eine eigentümliche Lässigkeit, die den Klavierkonzerten eine großzügige Note verleiht. Sentimentalität liegt da ganz fern.