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Vorabend des Quantensprungs

29.03.2006
Rolf Lislevand ist Professor für Laute und historische Aufführungspraxis an der Staatlichen Hochschule für Musik in Trossingen. Von Gelehrten wie ihm erwartet man landläufig eine besondere Korrektheit im Umgang mit den vermeintlich klaren Vorgaben der Historie. Und doch widersetzt sich gerade er den Klischees einer nach starren Regeln funktionierenden Musikdarbietung. Denn auch Klänge längst vergangener Epochen haben ein Recht auf Vitalität jenseits der Notenblätter, solange man ihnen Freiheit innerhalb ihres Traditionsmusters lässt. Lislevand wehrt sich gegen das Modell von Musik als starrem Muster in der Rezeption und Interpretation. Und deshalb klingen seine Darstellungen von Kompositionen aus Italien um 1600 nicht altehrwürdig, sondern nach “Nuove Musiche”.
Die Passacaglia war eine beliebte Form musikalischer Gestaltung im 17. Jahrhundert. Ursprünglich war sie wohl ein Volkstanz mit Tanzlied, das in den vorgegangenen Dekaden ihren Eingang in die Lautenmusik der italienischen und französischen Fürstenhöfe fand. Sie entwickelte sich rasant zu einer der bedeutendsten Gattungen der damaligen Instrumentalkultur, stand in der Regel in ungeraden Takten und bevorzugte langsame Tempi und Molltonarten. Für Rolf Lislevand sind die Passacaglien ein wunderbarer Ausgangspunkt für seine eigenen Vorstellungen musikalischer Vortragskunst: “Sie leben von Chromatik, von starken Dissonanzen und rhythmischen Unregelmäßigkeiten. Wenn die Komponisten diese Wirkungen gesucht haben, dann dürfen wir das weiter öffnen. Das Konzept besteht darin, dass ich lediglich entwickle und ausarbeite, was als Material direkt angelegt ist. Arianna Savalls [die Sängerin und Harfistin seines Projektes] Melodie stammt tatsächlich aus der Kapsberger-Toccata selbst. Alles, was da an Anklängen an zeitgenössische Formen populärer Musik entsteht, ist in den Stücken enthalten, ich hole es bloß hervor”. Damit ist der 1961 in Oslo geborene Virtuose und Querdenker aber schon mitten in der Diskussion.

Denn seine mit seinem Septett entwickelten Versionen der Kompositionen aus dem frühen 17. Jahrhundert klingen völlig anders als alles, was bislang die Alte Musik an Interpretationsvorschlägen der Vergangenheit bevorzugte. “Jahre lang hat man versucht, alte Musik möglichst genau so zu spielen, wie es zur Zeit ihrer Entstehung üblich war. Doch das ist ein philosophischer Widerspruch in sich. Zunächst stellt sich ja die Frage, ob es überhaupt möglich ist, die Aufführung eines früheren Musikers nachzuspielen. Zum anderen kann Rekonstruktion meiner Ansicht nach gar nicht von Interesse sein. Wollen wir denn wirklich so tun, als hätten wie nie etwas von der Musik zwischen 1600 und heute gehört? Ich denke, das wäre unredlich. Mit dieser Aufnahme lassen wir das Credo der Authentizität in der Alten Musik ein für alle mal hinter uns”. Das aber ist eine Kampfansage an alle Erbsenzähler der Zunft, die an die Absolutheit des Notierten glauben. Und sie kommt mitten aus den eigenen Reihen. Denn Lislevand ist einer der renommiertesten Virtuosen seines Fachs. Seine Auftritte sind unter Lautenfreunden legendär, viele seiner Solo-Aufnahmen preisgekrönt. Wenn er nun mit seinem Septett in das Studio des Osloer Feingeistes Jan-Erik Kongshaug und zusammen mit den Musikern und dem Produzenten Manfred Eicher viele der bislang geltenden Vorstellungen von Authentizität der Darbietung und Aufnahme hinter sich lässt, um Melodien von Luys de Narvaéz (1500–1555) bis Giovanni Girolamo Kapsberger (ca. 1575–1661) lustvoll und frei zu interpretieren, dann steht eine kleine Revolution in der Szene bevor, oder zumindest eifrige Diskussionen. Lislevand ist das nur Recht, denn wenn ihn etwas stört, dann ist es Kunst ohne Leben, ohne Seele: “Uns berührt etwas, das uns nahe kommt, räumlich, physisch. Wenn wir von physischer Intimität sprechen, bedeutet dies, dass das Objekt groß vor uns stehen muss. Das erst löst die Emotionen aus. Diese Nähe schafft der künstliche Raum des Studios. Viel zu lange haben wir dafür gesorgt, dass Barockmusik zu einem distanzierten Ritual verkam, zu einer beinahe symbolischen Handlung. Das wollen wir anders machen!”

 

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