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Der Markstein – Nelson Freire spielt Liszt

Nelson Freire © Decca / Eric Dahan
© Decca / Eric Dahan
28.04.2011
Franz Liszt war eine faszinierende Persönlichkeit. Als Komponist, Interpret, Lebemann und Paradiesvogel des bürgerlichen Konzertbetriebs deckte er gleich mehrere Sparten des öffentlichen Interesses ab. So galt er vielen Zeitgenossen in Fragen der Virtuosität als das pianistische Pendant zum Wundergeiger Niccolo Paganini, den er übrigens sehr bewunderte. Tatsächlich veränderte er sein musikalisches System deutlich, nachdem er den Kollegen 1831 zum ersten Mal in Paris auf der Bühne erlebt hatte. Viele der typischen Merkmal seiner Kompositionen, die Vorliebe für improvisatorisch wirkende Ungebundenheit, die Vermeidung der bislang üblichen Kadenzierungen, Periodisierungen und symmetrischen Formgebungen entwickelten sich in diesen Jahren zur vollen Blüte. Die fantasievolle Veränderung der Struktur, seine Experimente mit der Ausweitung der Harmonik und der chromatischen Satztechnik wie überhaupt mit den Möglichkeiten des noch jungen modernen Konzertflügels in den extremen Lagen im Bass und Diskant wiesen bereits weit in die kommenden Epochen hinein und fordern bis heute Pianisten immense technischen und interpretatorische Fähigkeiten ab.

Diese gestalterische Wucht und Präsenz bestimmte die Wahrnehmung der Person Franz Liszt zu Lebzeiten, sorgte auch für Ablehnung – Kollegen wie Clara Schumann oder Frédéric Chopin hielten ihn für einen Blender – und überdeckten damit die tatsächliche visionäre Kraft, die seiner Musik innewohnte. Nelson Freire, der famose brasilianische Pianist und latente Sinnsucher hinter dem Phänomen des Notentextes, hat sich daher auch intensiv in die Repertoirefülle eingearbeitet und aus Anlass des 200.Geburtstags des Komponisten ein gutes Dutzend Stücke herausgesucht, die den vermeintlichen Schauläufer der Virtuosen-Ära als völlig anderen Künstler darstellen. Denn bei „Harmonies du soir“ geht es um Tiefe und Bedeutung und auch um das Spiel mit den emotionalen Erwartungshaltungen des bürgerlichen Publikums, das Franz Liszt vor allem in späteren Jahren betrieb.

Denn eines ist klar: Sowohl das Titelstück, ein Ausschnitt aus den „Études d'éxécution transcendente“, als auch die sechs „Consolations“ aus dem Jahr 1850 erscheinen eher wie Frühwerke des Impressionismus als dem romantischen Gestaltungsideal verpflichtet, mit dem Unterscheid, dass sie bereits eine Generation vor Debussy & Co entstanden. Nelson Freire ergänzt diese stilprophetischen Ausblicke in das folgende Jahrhundert mit einer der weniger bekannten „Ungarischen Rhapsodien“, außerdem mit der betörend pfiffigen „Valse oubliée“, die auch als schelmischer Kommentar zum Ästhetizismus mancher Chopin-Kompostionen durchgehen könnte (kein Wunder eigentlich, dass der empfindliche polnische Kollege Liszt nicht mochte). Darüber hinaus greift dieses herausragende Recital auf Episoden aus beiden Büchern der „Années de pèlerinage“ zurück, abgerundet durch das „Waldesrauschen“ und die „Ballade Nr.2“. Man hört die Musik, sieht Nelson Freire auf dem Cover mit hochgekrempelten Ärmeln lächelnd am Klavier und weiß, dass sich hier zwei Freigeister gefunden haben, um tief in die Welt der Kunst einzutauchen.

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