Mirga Gražinytė-Tyla | News | Sinnliche Klangreise nach Litauen

Sinnliche Klangreise nach Litauen

Mirga Gražinyté-Tyla und Raminta Šerkšnyté
© Modestas Ežerskis
14.11.2019
Jenseits der bekannten Pfade und viel beschrittenen Wege liegen oft spannende Entdeckungen. Die junge litauische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla hat sich schon bei ihrem Debütalbum im Mai dieses Jahres als feinsinnige und mutige Erkunderin versteckter Pfade gezeigt und dem außergewöhnlichen Komponisten Mieczyslaw Weinberg eindrucksvoll die Ehre erwiesen. Auf ihrem neuen Album widmet sich Gražinytė-Tyla nun verschiedenen Werken der Komponistin Raminta Šerkšnytė, mit der sie neben der litauischen Heimat eine enge Künstlerfreundschaft verbindet. Das Album erscheint am 15. November bei Deutsche Grammophon und umfasst zusätzlich zu den Aufnahmen die spannende Dokumentation über Gražinytė-Tyla “Going for the Impossible – A Portrait”.

Mirga Gražinytė-Tyla und Raminta Šerkšnyté: Musikalische Botschafterinnen Litauens

“Meine Verbindung mit Raminta Šerkšnytės Musik ist sehr persönlicher Natur”, sagt Gražinytė-Tyla. Dabei fasziniere sie am meisten die poetische Qualität und das Mysterium dieser Komponistin und ihres Werks. “Der ‘Ramintacism’, die kleinen Terzen. Ihre persönliche Stimme. Diese Stimme ist auch im internationalen Kontext von allergrößter Bedeutung”, so Gražinytė-Tyla. Neben der künstlerischen Freundschaft verbindet die Dirigentin und die Komponistin das gemeinsame Heimatland Litauen, dessen bewegte Geschichte und archaische Natur sich in Šerkšnytės Musik eindrücklich wiederspiegeln. Insbesondere das Streben nach Freiheit und Selbstverwirklichung hat die 1975 geborene Komponistin sehr geprägt. So sagt sie: “Die politische Bewegung der Sajudis und die litauische Unabhängigkeit gehören zu den wichtigsten Ereignissen meines Lebens. Ich werde nie die Zeit vergessen, in der die Menschen Litauens in der Idee der Freiheit vereint waren. Auf eine Art hat diese Zeit des Umbruchs auch meine Kreativität stark beeinflusst.” In der Tat zeichnen sich ihre Werke durch eine große Offenheit und stilistische Vielfalt aus und zeugen sie von der Auseinandersetzung der Komponistin mit verschiedensten Eindrücken und Inspirationsquellen, wobei sich postromantische Züge darin ebenso wiederfinden wie post-minimalistische Ansätze, mitunter ergänzt durch Elemente des Jazz und der Avantgarde.

Dramatische Natur- und Seelenbilder

Am Anfang des neuen Album steht mit dem “Midsummer Song” ein einsätziges und vielschichtiges Werk, das dem besonderen Zauber der Mittsommernacht und der “weißen Nächte” in Litauen in der Musik nachspürt und die Grenzen zwischen Tag und Nacht mittels der Tonarten auch musikalisch verschwimmen lässt. Die bildhafte Reflexion dieses Phänomens hat für Šerkšnytė gleichzeitig auch eine psychologische Dimension. So sagt sie: “Mein Midsummer Song ist wie eine lange Reise zu unserem inneren Frieden, der vor allem in unserer Vorstellung existiert. Nirgendwo im Außen können wir diesen inneren Frieden finden, nur in uns selbst”.
Mit “De profundis” folgt ein ebenfalls einsätziges Werk für Streichorchester, das Gidon Kremer mit guten Grund einmal als “Visitenkarte der baltischen Musik” bezeichnet hat. Flirrende Abschnitte mit rastlosen Glissandi wechseln hier mit nahezu bewegungslosen Akkordfolgen und lassen ein intensives Klangmosaik von berührender ästhetischer Tiefe entstehen.
In den “Liedern von Abend- und Morgenröte” schließlich setzt sich die Komponistin in Form eines Oratoriums für Solisten, Chor und Symphonieorchester mit drei stimmungsvollen Natur-Gedichten des indischen Dichters Rabindranath Tagore auseinander und folgt im Aufbau den Prinzipien eines indischen Ragas.

Expressiv und archaisch

Unterstützt von der Dirigentin Giedrė Slekytė beweist Mirga Gražinytė-Tyla auf ihrem neuen Album eine betörende Präzision und Expressivität bei der Interpretation der Werke von Raminta Šerkšnytė und erweckt die archaischen Natur- und Seelenbilder der Komponistin am Pult des Lithuanian National Symphony Orchestra und der Kremerata Baltica vielschichtig und farbenreich zum Leben. So gleicht das Album einer klangsinnlichen Reise nach Litauen, die den Zuhörer am Ende tief bewegt zurücklässt.

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