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Maurizio Pollini
© York Christoph Riccius / DG
Maurizio Pollini (5. Januar 1942 – 23. März 2024)
Mehr als 60 Jahre lang war Maurizio Pollini eine überragende Gestalt in der Musikwelt – ein Pianist, der im Alter von nur 18 Jahren in Warschau die Juroren des Internationalen Chopin-Wettbewerbs verblüffte und danach nicht nur durch technische Exzellenz begeisterte, sondern auch durch künstlerisches Engagement. Nie aber kreiste er um sich selbst. Pollini war ein Verehrer von Beethoven und Chopin, ein Verfechter des Schaffens seiner Zeitgenossen, ein Mann der starken politischen Ideale, doch zuvorderst war er Musiker. Das zeigte sich von Beginn an. Nach seinem frühen Erfolg stürzte er sich nicht sofort in die Solokarriere, sondern nahm sich die Zeit, sein musikalisches Interesse und Repertoire zu entwickeln. Erst dann gab er seine Debüts in London und Berlin. 
Pollini wurde im Januar 1942 in Mailand in eine Familie von Kreativen hineingeboren. Sein Vater war der modernistische Architekt Gino Pollini, seine Mutter die Schwester des abstrakten Bildhauers Fausto Melotti. Er selbst begann im Alter von fünf Jahren mit dem Klavierunterricht, zunächst bei Carlo Lonati, dann bei dem legendären, in Chile geborenen Klaviervirtuosen Carlo Vidusso. 1959 schloss er sein Studium am Mailänder Konservatorium mit einer Aufführung von Chopins Etüden in der Sala Verdi ab und studierte nach seinem Warschauer Glanzstück bei Arturo Benedetti Michelangeli. Obwohl sein Name zunächst mit Chopin in Verbindung gebracht wurde und er eine gefeierte frühe Aufnahme des ersten Klavierkonzerts machte, erweiterte Pollini sein Repertoire schnell um zeitgenössische Musik.
So veröffentlichte er 1972 Boulez’ Zweite Klaviersonate – der Erstling bei Deutsche Grammophon war der Auftakt zu mehr als fünf Jahrzehnten als Exklusivkünstler des Labels. Mit der Einspielung, auf der auch Strawinsky, Prokofjew und Webern zu hören sind, setzte Pollini einen Meilenstein und die Kritik überschlug sich vor Begeisterung. 14 Jahre später, als die Interpretation auf CD erschien, brachte Gramophone die Kunst des Pianisten auf den Punkt: »Keinem Irdischen sollte es möglich sein, so zu spielen wie Pollini … eine Darbietung von phänomenaler Präzision und zwingender expressiver Unerschütterlichkeit, jede Note exakt gewichtet, temperiert, doch vor allem gefühlt«. 
Pollini teilte mit seinen Freunden und Kollegen, den Musikern Claudio Abbado und Luigi Nono, die Vorstellung von Musik als Ausdruck bürgerlicher Haltung, und insbesondere in den 1970er-Jahren brachte er diese Haltung mit Konzerten in Fabriken und Schulen auf die Bühne. In diesem Jahrzehnt wurde auch Nonos …sofferte onde serene… für Klavier und Tonband uraufgeführt, das Pollini und seiner Frau Marilisa gewidmet ist. Neben solch neuen Werken lag der Schwerpunkt seines Repertoires auf Beethoven, Chopin, Schumann und der Zweiten Wiener Schule, aber er nahm auch Konzerte von Mozart, Brahms und Bartók auf und trat mit so legendären Persönlichkeiten wie Fischer-Dieskau in Schuberts Winterreise oder Rostropowitsch in Beethovens Cellosonaten auf.
Mit Abbado und den Berliner Philharmonikern spielte er 1992/93 live die fünf Klavierkonzerte von Beethoven ein. Danach machte er sich an ein großes Projekt, bei dem er über sieben Abende den kompletten Klaviersonatenzyklus des Komponisten in chronologischer Reihenfolge aufführte, ein überwältigendes Beethoven-Erlebnis, das er seinem Publikum in unterschiedlichsten Städten bot, ob in Mailand oder Wien, London oder New York. Bereits 1977 hatte er die Gesamteinspielung der Sonaten für das Gelblabel mit der Veröffentlichung der fünf letzten Sonaten begonnen. 2014 vollendete er sie.
Bei den Salzburger Festspielen 1995 realisierte er erstmals das »Progetto Pollini«, eine Konzertreihe, die Tradition und Gegenwart einander gegenüberstellte. Seiner Überzeugung, dass die musikalische Sprache der besten zeitgenössischen Komponisten so »stark und lebendig« ist wie die von Chopin zu seiner Zeit, gab er so eine erfahrbare Gestalt. »Ich bin in einem Haus voll Kunst und Künstlern groß geworden«, erzählte er einst. »Alte und moderne Werke existierten nebeneinander als Teil des Lebens. Das war selbstverständlich.« Das Progetto-Konzept wurde 1999–2001 in New York unter dem Titel »Perspectives« wiederbelebt und 2003 ebenso in Rom, wo Pollini im Jahr zuvor an der Einweihung des neuen Auditoriums Parco della Musica mitgewirkt hatte. Und auch Bach nahm Pollini später in sein Konzertrepertoire auf. 2009 erschien seine Einspielung des ersten Teils des Wohltemperierten Klaviers. 2011 spannte eine Konzertreihe in London dann den weiten Bogen seines Repertoires – von Bach über Beethoven, Chopin, Schumann und Debussy bis hin zu Stockhausen. Was es für ihn bedeutete, täglich Musik zu machen, erklärte Pollini 2019 in einem Interview: »Nur mit der Musik, in der Musik, steht die Zeit still. Manchmal kann man sogar rückwärts gehen und wird wieder zum Kind.«
Pollini blieb sich zeit seines Lebens treu. So schien es geradezu selbstverständlich, dass er im Mai 2022 in die Sala Verdi seiner Alma Mater zurückkehrte. Er gab dort ein Benefizkonzert für die kriegsversehrte Ukraine. Auf dem Programm die Musik Schuberts und natürlich Chopins.
03/2024
 
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