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Pas de Deux der Hände

Keith Jarrett
22.11.2011
Man kann von Keith Jarrett ja einiges behaupten, aber sicher nicht, dass er Kompromisse eingehen würde. Keith Jarrett ist immer hundertprozentig Keith Jarrett. Darauf ist Verlass.

Text: Wolf Kampmann | Bilder: Daniela Yohannes, Richard Termine, ECM

In jeder seiner Einspielungen findet man alles, was dieses Trademark Keith Jarrett seit Anbeginn definiert und doch auch immer wieder zahlreiche Dinge, die man so nie von ihm erwartet hätte. Sein neuestes Soloalbum „Rio“ ist ein grandioser Beleg dafür.

Genau 40 Jahre ist es her, dass der Pianist mit „Facing You“ sein erstes Soloalbum für ECM gemacht hat. Jedes der kurzen Stücke war damals ein Gedicht, dessen transparente Poesie dem Hörer unschwer Zugang zu immer tieferen Sphären gewährte. Es klang, als würden die beiden Hände des Solodebütanten miteinander einen Tanz vollführen, bei dem nicht immer klar war, wer die Führung übernimmt. Jede einzelne Sekunde an diesem Album war überraschend, weil Jarrett sich die Freiheit des permanenten Richtungswechsels nahm. Die unverstellte, spontane Schönheit dieser Musik hat bis heute nichts von ihrer fesselnden Faszination verloren.

Wenige Jahre nach „Facing You“ erschien dann das legendäre Konsens-Abum „The Köln Concert“, auf dem sich Jarretts Ruf als Ausnahmepianist, der auch jazzfremde Hörer ins Boot holen kann, über alle Genres hinweg begründete. Auf „Rio“ schließt er nun wieder an „Facing You“ an. Das war alles andere als eine bewusste Entscheidung. Eigentlich hatte er eine CD mit Musik von Bach auf der Agenda, sein Brasiliengastspiel sollte gar nicht aufgenommen werden. Aber in Rio offenbarte sich eine unversehens Magie, die Jarrett nicht nur mit seinem brasilianischen Publikum vor Ort teilen wollte. Die Musik auf „Rio“ ist rein improvisiert. Dennoch verbietet sich Jarrett jedes Schwelgen. Improvisation meint hier wirklich die genuine Erfindung von Melodien und Motiven. Jarrett verliert sich nicht im Rausch der Piano-Klänge, sondern ist ein Architekt, der selbst von der Kühnheit seiner Entwürfe verblüfft ist. In der Eröffnungssequenz der einfach durchnummerierten Stücke ist er so spröde wie schon lange nicht mehr. In Part I glaubt man, Glas regnen zu hören, in III überträgt sich Jarretts Herzschlag unmittelbar in die Tasten, V klingt wie ein altes Volkslied, Part VI ist ein mitreißender Friedensmarsch und immer so weiter. Jedes Stück schlägt eine neue Seite in einem farbenfroh kolorierten Bilderbuch auf, in dem sich Augenblick und Ewigkeit auf höchstem Niveau vereinen. Der Sound ist zweifellos fulminanter und konzertanter als auf „Facing You“, doch im Kopf des Pianisten scheinen sich ganz ähnliche Prozesse abzuspielen. Wieder erleben wir das Pas de Deux seiner Hände, wieder ist da jene jugendliche Verspieltheit, die wir schon vor vier Jahrzehnten gehört haben.

„Rio“ ist gewissermaßen Jarretts zweites Solo-Debüt, auf dem seine Fans ihren Star neu entdecken können, das aber auch Hörern, die seinem Spiel in der Vergangenheit kritisch gegenüberstanden, eine zweite Chance des Zugangs gewährt. Diese Doppel-CD gehört ohne Frage zu den allerbesten Aufnahmen, die es von dem Pianisten bisher gibt.

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