Um als Jazzstandard in das “Great American Songbook” einzugehen zu können, müssen sich die Stücke bei Musikern und Publikum gleichermaßen großer Beliebtheit erfreuen. Zu den fleißigsten Standard-Produzenten gehörten unter anderem George und Ira Gershwin, Cole Porter, Irving Berlin, Richard Rodgers, Lorenz Hart, Oscar Hammerstein II, Duke Ellington, Jerome Kern, Harold Arlen, Johnny Mercer, Hoagy Carmichael, Jimmy Van Heusen und Johnny Mandel.
Für angehende Jazzmusiker ist es nahezu unumgänglich, sich das nötige musikalische Vokabular anhand dieser Vorlagen draufzuschaffen. Manche bleiben danach ihre Karriere lang diesem Repertoire treu, andere versuchen später einen großen Bogen um Standards zu machen. Auch
Keith Jarrett begann seine Jazzerlaufbahn mit dem Spielen von Standards. Während seiner Studienzeit in Boston trat er mit diversen Bands auf und unterhielt kurzzeitig sogar ein eigenes Trio in klassischer Jazzbesetzung. 1965 zog der Pianist nach New York um, wo er bei Sessions in Clubs wie dem Birdland und dem Village Vanguard weitere Spielerfahrungen gewann – auch dort standen oftmals Standards auf dem Programm. Bei einer Session entdeckte ihn der für seine Talentspürnase bekannte Schlagzeuger Art Blakey und holte den Pianisten in seine Hard-Bop-Band The Jazz Messengers.
Danach spielten Jazzstandards im Repertoire von Jarrett nur noch eine sehr untergeordnete Rolle. Lediglich hier und da präsentierte er einmal eine solche Nummer auf seinen eigenen Platten. Sechzehn Jahre lang sollte es so bleiben. Als Jarrett dann 1983 plötzlich mit Gary Peacock und Jack DeJohnette das “Standards”-Projekt aus der Taufe hob, war die Verblüffung (und nach Hören der Aufnahmen auch der Jubel) um so größer. Zumal er in den vorangegangen Jahren eine Anzahl eher klassischer Alben wie “Hymns And Spheres”, “Sacred Hymns”, “The Celestial Hawk” und “Invocations/The Moth And The Flame” veröffentlicht hatte, die in der Jazzszene mit einigem Befremden aufgenommen wurden.
Für seine Hinwendung zu Jazzstandards nannte der Pianist damals drei Gründe: “Punkt eins ist, daß an die Nicht-Vereinnahmbarkeit von Musik ebenso erinnert werden muß, wie an die Standards aus dem Repertoire anderer Musiker. Die zweite Sache ist, daß der Respekt vor Musik, die nicht die eigene ist, den Zugang zu dieser Musik ermöglicht. Zum dritten haben wir drei diese Musik an ähnlichen Punkten unseres Lebens gespielt und hatten auch ähnliche Erfahrungen. Wir sind mit den Liedern herangewachsen; sie haben uns angeschubst und wurden zu einer Sprache, die wir nie vergessen werden.”
Das erste “Standards”-Album, für das das Trio unter anderem den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik verliehen bekam, enthielt fünf hervorragend ausgewählte Titel: “Meaning Of The Blues”, “All The Things You Are”, “It Never Entered My Mind”, “The Masquerade Is Over” und “God Bless The Child”. “Diese Platte ist seine beste seit langem”, meinte damals ein Kritiker des amerikanischen Jazzmagazins Down Beat. “Der Ansatz basiert auf dem von Pianist Bill Evans, Bassist Scott LaFaro und Schlagzeuger Paul Motian begründeten Trio-Konzept, ist aber deutlich weiterentwickelt… Die sparsamen Akkorde erinnern uns an Evans: eine perfekte Metaphorik, die dem Hörer erlaubt, das Bild zu vervollständigen – und von seiner eigenen Vorstellungskraft verführt zu werden. Ich denke, dies ist die beste Sorte Kunst.”
“Standards, Vol. 2”, bei denselben Sessions entstanden wie “Standards, Vol. 1”, enthielt neben fünf weiteren Standards (“Moon And Sand”, “In Love In Vain”, “Never Let Me Go”, “If I Should Lose You” und “I Fall In Love Too Easily”) als Opener auch ein Jarrett-Original (“So Tender”). “Hier werden Kleinkunstwerke, die wohl erst eine spätere Musikgeschichte in ihrem wahren Wert erkennen wird, ganz ernst genommen, von innen her aufgebrochen und auf einen Punkt von größter konzentrierter Schönheit gebracht – nach Tausenden von Interpretationen wieder hörbar gemacht wie am ersten Tag.”, hieß es in einer Rezension der Schweizer Weltwoche. Und Jürg Laederach schrieb in der Basler Zeitung: “Die Spielfreude in raschen Nummern wie ‘If I Should Lose You’ oder ‘All The Things You Are’ ist überwältigend. Die drei scheinen ohne erkennbares Arrangement, mit minimalen Absprachen, getrennt zu eilen und vereint zu schlagen. In den raschen Tempi kann Jarrett seine Fähigkeit zur Entfaltung neuer Stilmittel in mitreißender Unerschöpflickeit treiben und quellen lassen. Sein Gestaltungsvermögen überzeugt schon vom Ansatz her: das Stück wird zunächst fast einfingrig, fast ohne Zutaten, angetastet, dann gewinnt Peacock vor allem in den unteren Lagen, die rhythmischen und melodischen Feldzüge werden kühner, in diesem Augenblick hat Jarrett seinen absichtlich zurückhaltenden Skizzen-Ansatz in ein unregelmäßiges, kaum im voraus erratbares Phrasengeflecht aufgesplittert. Zunächst werden wilde, glutige Striche aufgetragen, eine Menge Enden für späteres Anknüpfen offengelassen und etwa da, wo das übliche Jazztrio die Nummer beschließt, werfen die drei ihre resolut überlegenen Fähigkeiten zur Ad-hoc-Bearbeitung des bereits improvisierten Materials ein, dehnen, raffen, transponieren, paraphrasieren, reduzieren aus Spaß auf ein ganz anders geartetes Minimum hinunter, das sie mit neuem Prozessuale wieder auf die Ebene großen Apparates heben.”
Noch losgelöster agierte das Trio auf dem dritten Album, das aus diesen Sessions im Januar 1983 hervorging. “Changes” enthielt weitgehend freie Improvisationen über kompositorische Ideen Keith Jarretts. “Das Trio führt zwei Kompositionen von Jarrett auf: das 30minütige ‘Flying’ und das sechsminütige ‘Prism’”, berichtet Scott Yanow im All Music Guide. “Das in verschiedene Abschnitte unterteilte ‘Flying’ fesselt einen über die gesamte Dauer, während das bündigere ‘Prism’ mit einer wunderbaren Melodie aufwartet. Es ist eine schöne Abwechslung zu hören, wie Jarrett (der normalerweise ohne Begleiter spielt) hier mit zwei weiteren superben Musikern interagiert.”
“Wir gingen eigentlich ins Studio, um nur ein Album aufzunehmen, hatten hinterher aber genug Material für drei Alben zusammen”, erinnert sich Gary Peacock an die Sessions vom 11. und 12. Januar 1983. “Es war unglaublich. Der einzige Pianist, der beim Interpretieren von Standards auf mich einen ebenso starken Eindruck gemacht hatte, war Bill Evans gewesen, als ich mit ihm zusammenarbeitete. Als wir nun bei diesen Sessions begannen Standards zu spielen… puh! Da soll mir noch mal einer was von Tiefe erzählen! Uns eröffnete sich hier ein völlig neues Erfahrungsniveau.”
Für Keith Jarrett, Gary Peacock und Jack DeJohnette waren diese drei Alben, die sie innerhalb einer zweitägigen Aufnahmesession einspielten, aber erst der Auftakt zu einer unvergleichlichen Serie mit “Standards”-Alben. Mit dem 2001 in Montreux mitgeschnittenen Live-Album “My Foolish Heart” haben die drei Ende 2007 die achtzehnte ECM-Veröffentlichung des Standards-Trios herausgebracht. Pünktlich zum 25jährigen Jubiläum des Trios im Januar 2008 werden nun diese drei ersten CDs, neu gemastert, in einer Box mit dem Titel “Setting Standards: New York Sessions” (ECM 2030–2032) wiederveröffentlicht. Diese Box bildet zugleich den Grundstein für eine neue Reissue-Serie, in der ECM eine Reihe von Klassikern und historisch wichtigen Alben wieder neu auflegen wird.