Es gehört zu den Besonderheiten der vergangenen Opernjahre, dass viele Tenöre des italienischen Repertoires eigentlich der Spanisch sprechenden Tradition entstammen. Der junge peruanische und inzwischen international als Star gefeierte Rossini-Spezialist Juan Diego Flórez macht da keine Ausnahme. Und wie seine berühmten Kollegen hat auch er eine besondere Affinität zur Musik seiner Heimat. Ob Melodien von Ernesto Lecuona oder Agustin Lara, Carlos Gardel oder Chabuca Granda – sie gehören zur Lebenswelt Südamerikas und sind daher auch ein Teil von Flórez' künstlerischer Entwicklung. Er hat diese wunderbaren Melodien schon als Kind geliebt und widmet ihnen nun mit “Sentimiento Latino” ein eigenes Programm. Das ist Musik, die zu Herzen geht, weil sie von Herzen kommt.
Schuld war die Familie. Juan Diego Flórez wuchs in Lima in einem stark musisch geprägten Elternhaus auf, so dass es nicht ausblieb, dass er viel mit der Klangwelt seiner Heimat in Kontakt kam. Er war eine Fügung, die in dem heute 33jährige Tenor eine tiefe Leidenschaft entfachte: “Ich bin mit Valses criollos, Marineras, Boleros, Rancheras und Tangos, herrlichen Liedern aus Lateinamerika, groß geworden, Gleich ob es mein Vater an der Gitarre war, meine Mutter mit ihrer Criollo-Stimme oder meine Großmutter am Klavier – diese Lieder lagen in der Luft”. Tatsächlich waren die Voraussetzungen gut. Flórez' Vater war Sänger, spezialisiert auf einheimische Walzer, und er schaffte es, seine Begeisterung an den Buben weiter zu geben. Daheim wurde viel gesungen, Juan lernte außerdem musikalische Grundlagen an der Gitarre kennen. Als er 15 war half ihm dann ein wichtiger Zufall. An seine Oberschule wurde ein Musiklehrer versetzt, der das Talent des jungen Mannes erkannte und ihn an das Konservatorium empfahl. Dort wurde er an Tenor Andrés Santa Maria vermittelt, der ihn drei Jahre lang unterrichtete und dem jungen Mann eine Stelle beim Nationalchor verschaffte. So wuchs in kurzer Zeit nicht nur Flórez stimmliche Kompetenz, sondern auch sein Repertoire. Die Natur verschonte ihn darüber hinaus mit den Härten des männlichen Stimmbruchs und ließ seine Stimme kontinuierlich tiefer werden. Wo andere Jungtenöre mit den Übergängen zwischen den Registern zu kämpfen hatten, sang Flórez mühelos die Tonleitern bis in die hohen Lagen der Kopfstimme.
Im Jahr 1994 lernte er im Urlaub Ernesto Palacio kennen, der ihn als alter Hase des Geschäfts in die Geheimnisse der Atmung einweihte, ihm kleinere Auftritte bei Plattenaufnahmen verschaffte und ihn nach Italien mitnahm. Außerdem veränderte der Mentor die Brillanz der jungen Stimme, indem er dem Novizen riet, offener, präsenter, selbstbewusster zu singen. In Pesaro sprang Flórez 1996 im letzten Moment für einen erkrankten Kollegen ein und übernahm die Rolle des Corradino in Rossinis “Matilde di Shabran”. Von da an ging es zügig voran bis zu seinem Debüt-Album “Rossini Arias”, das ihn 2002 als neuen Stern am Tenorhimmel etablierte. Seitdem gehört er zu den wichtigsten Tenören des lyrischen, italienischen Repertoires seiner Generation und wird in aller Welt gefeiert. Mit “Sentimiento Latino” könnte es ihm gelingen, ein noch größeres Publikum als bisher zu begeistern. Denn die 15 Melodien des südamerikanischen Stilkosmos betören durch ihren Charme und ihrer Direktheit, mit der sie sich an die Gefühle der Hörer wenden. Es finden sich Klassiker wie das bereits von Mario Lanza geliebte “Granada” von Agustin Lara darunter, wunderbare argentinische Weisen wie “El dia que me quieras” des Tango-Königs Carlos Gardel oder José Padillas “Princesita”, das der mexikanische Tenor José Mojica bereits 1925 mit Erfolg auf Schellack aufnahm.
Flórez ließ sich bei den im Herbst 2004 im texanischen, Mexiko nahen Fort Worth entstandenen Aufnahmen zu “Sentimiento Latino” vom dortigen Symphonie-Orchester unter der Leitung von Miguel Harth-Bedova begleiten, das das nötige Latin-Feeling mit auf die Aufnahme brachte. Außerdem hatte er Gaststars wie den Gitarristen David Gálvez oder den Bandoneonisten Daniel Binelli an seiner Seite, die für Authentizität und Virtuosität sorgten. Flórez selbst fühlte sich entspannt wie selten zuvor und feierte mit aller ihm zur Verfügung stehenden Intensität die Melodien seiner Kindheit und Jugend. So ist “Sentimiento Latino” ein ebenso ehrliches wie mitreißendes Album geworden, das mit Temperament und Verve den Hörer in die Ferne der südamerikanischen Melodienwelt entführt.