Heinz Holliger | News | Psychogramm eines Grenzgängers – Christian Gerhaher spürt in Heinz Holligers Traumoper "Lunea" den Seelenregungen des spätromantischen Dichters Nikolaus Lenau nach

Psychogramm eines Grenzgängers – Christian Gerhaher spürt in Heinz Holligers Traumoper “Lunea” den Seelenregungen des spätromantischen Dichters Nikolaus Lenau nach

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21.04.2022
Die in sich gekehrten, melancholisch verträumten Dichter der Romantik haben es Heinz Holliger angetan. Der Schweizer Komponist findet in ihnen Seelenverwandte, die wie er den existenziellen Dimensionen des Lebens nachspüren und Erfahrungen wie Liebe, Freiheit, Schmerz oder Tod poetisch zu fassen suchen. Holliger hat das romantische Erbe oft in seinen Kompositionen aufgegriffen und es sich in eigenwilliger Manier anverwandelt. Paradigmatisch hierfür dürfte sein 1993 in der New Series erschienener Scardanelli-Zyklus sein, mit dem er der hochverletzlichen Empfindungswelt des späten Hölderlin nachsann. Jetzt hat sich der Komponist erneut einem romantischen Dichter des 19. Jahrhunderts angenommen. In “Lunea”, seiner zweiten Traumoper nach “Schneewittchen” (1997/98), rücken die fragmentarischen Texte und das Leben des späten Nikolaus Franz Niembsch, besser bekannt unter dem Künstlernamen Nikolaus Lenau, ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Poesie der Entgrenzung 

Holliger widmet sich dem österreichischen Poeten, der 1802 in Csatád im Königreich Ungarn geboren wurde und 1850 in Oberdöbling verstarb, in 23 Episoden. Der Librettist Händl Klaus versieht diese Teile mit dem schönen Titel Lebensblätter. Die Herangehensweise hat stark aphoristischen Charakter. Es geht nicht darum, den Lebensweg des Spätromantikers detailliert oder gar chronologisch nachzuzeichnen, sondern um musikalische und poetische Schlaglichter, die von Zeilen des Dichters inspiriert sind. Händl Klaus hat eine textliche Webtechnik gefunden, bei der die Poesie des Dichters stets hervorsticht. Worte von Lenau bilden die poetische Mitte der Oper, die Holliger mit einer ebenso empfindsamen wie scharf einschneidenden Klangsprache ausgestaltet. Das passt zu den frappierend modernen Texten des Dichters, die manchmal empfindsam, diskret beobachtend, manchmal aber auch brachial ehrlich und schmerzhaft zehrend daherkommt.

Existenzielle Wirkung 

Der Bariton Christian Gerharer, der 2013 bereits Holligers der Oper zugrunde liegenden Liederzyklus “Lunea” interpretiert hatte, singt die Titelpartie. Wie ein Fischer-Dieskau des 21. Jahrhunderts, einfühlsam, geduldig tastend, aber auch intellektuell gerüstet und zur Distanz fähig, verleiht er dem psychisch taumelnden, die Dinge gleichwohl scharf wahrnehmenden Dichter stimmlich Ausdruck. Sätze wie “Der schwarze Schleier der Nacht hat sich angezündet” oder “Der Mensch ist ein Strandläufer am Meer der Ewigkeit” sind bei Gerharer von atemberaubend existenzieller Wirkung.
Um den Bariton herum sorgen Sängerinnen wie die Sopranistin Juliane Banse oder die Mezzosopranistin Annette Schönmüller dafür, den unterschiedlichen Frauengestalten in Lenaus Leben emotional Kontur zu verleihen.
Realisiert mit der Philharmonia Zürich und den Basler Madrigalisten unter der Leitung von Heinz Holliger, verdankt sich die jetzt erschienene Aufnahme von “LUNEA. Lenau-Szenen in 23 Lebensblättern” einem Live-Mitschnitt aus dem Opernhaus Zürich (März 2018). Dem Doppelalbum liegt ein umfangreiches, den hohen Status der Oper in Holligers Schaffen herausstellendes Booklet mit dem kompletten Libretto und intellektuell fordernden Essays von Händl Klaus, Christian Gerharer und Roman Brotbeck bei.      
 

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