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Franz Liszt als Wanderer zwischen musikalischen Welten – Pierre-Laurent Aimard spielt Liszt, Bartok, Berg und Messiaen

Pierre-Laurent Aimard © Marco Borggreve / Deutsche Grammophon
© Marco Borggreve / Deutsche Grammophon
09.09.2011
Pierre-Laurent Aimard widmet Franz Liszt anläßlich seines 200. Geburtstages am 22. Oktober 2011 sein bislang ambitioniertestes Aufnahmeprojekt auf Deutsche Grammophon. In seinem Doppelalbum stellt Aimard eine persönliche Auswahl von Liszts Klavierwerken einer Reihe von Werken sowohl von Zeitgenossen als auch von musikalischen Nachfolgern gegenüber, die sich von dem ungarischen Komponisten inspirieren ließen, wobei Stücke von Olivier Messiaen und Marco Stroppa die aktuelle Bedeutung von Liszt bis in unsere Zeit unter Beweis stellen. Liszts wegweisende h-moll Sonate etwa wird mit anderen einsätzigen Sonaten von Alban Berg, Richard Wagner und Alexander Skrjabin – dessen aufwühlender „Schwarze Messe“ – kombiniert, während kürzere Stücke Liszts ihre Entsprechung in Kompositionen von Béla Bartók und Maurice Ravel finden. Diese Aufnahme entstand im Verlauf von zwei Recitals von Pierre-Laurent Aimard im weltberühmten Wiener Musikverein, wurde live mitgeschnitten und stellt zweifellos einen der diskographischen Höhepunkte im Liszt-Jahr 2011 dar.

Professor Dr. phil. Wolfgang Rathert hat den Pianisten auf ein Gespräch getroffen.

WR: Liszt war und ist der Inbegriff eines Wanderers zwischen den musikalischen Welten. Dies gibt seinem Werk eine gewisse Ruhelosigkeit und hat ihm den Vorwurf eingetragen, dass er nicht wirklich in der Lage gewesen sei, große, in sich abgeschlossene und ausgereifte Kompositionen zu schreiben. Stimmt das?

Pierre-Laurent Aimard: Diese Ruhelosigkeit war Vorteil und Nachteil zugleich. Liszts Erlebnishunger und die Notwendigkeit, seine Erlebnisse zu verarbeiten, machen ihn zu einem zutiefst humanen Wesen. Liszt konnte alles in Musik um- und übersetzen, doch man könnte sich oft mehr Fokus wünschen und das Bestreben, diese Fülle in eine festere Form zu bringen. So ist die h-moll-Sonate sicher ein Glücksfall, den wir auch der Hartnäckigkeit der Fürstin von Sayn-Wittgenstein zu verdanken haben, die ihn an den Schreibtisch zwang. Man sieht daran, welche fantastischen Möglichkeiten Liszt als Komponist besaß, wenn er Konzentration und Geduld aufbrachte.

WR: An Ihrer Interpretation der h-moll-Sonate fällt auf, dass sie sich der Extreme enthält. Sie haben das Stück weder als Virtuosennummer »hingelegt«, noch die in der Musik ohnehin bestimmende Gegensätzlichkeit der Charaktere zugespitzt.

PLA: In diesem Werk finden wir eine beeindruckende Form der Integration höchst differenzierter Elemente vor. Die Schwierigkeit besteht darin, am Ende sowohl das Gefühl für die Einheit der Form wie für die Verschiedenartigkeit der einzelnen Stationen bewahrt zu haben. Die Sonate wird von starken Kontrasten durchzogen, die ein instrumentales Drama schaffen. Ihre einsätzige Form ist aber auch Beleg für Liszts Wunsch nach Kontinuität, nach dem großen Fluss – ein sehr romantisches Prinzip. Liszt realisiert dieses Prinzip dann auch in der symphonischen Dichtung, Wagner – der auf dieser Aufnahme mit seiner »Album-Sonate« vertreten ist – im Musikdrama. Die Sonate von Berg teilt mit Liszts Sonate das immanente Drama, jedoch nun in einer solchen formalen Verdichtung, dass wir hier schon das expressionistische Ausdrucksbedürfnis des späteren Opernkomponisten spüren können. Außerdem gibt es eine Analogie im Nebeneinander von tonalen oder modalen Harmonien, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. So lässt Liszt zu Beginn seiner Sonate das Thema in einer absteigenden Tonleiter erst im phrygischen und dann im »Zigeuner«-Modus erklingen. Im Verlauf des zweiten Themas benutzt er dann die harmonische Verbindung über den Tritonus, die die beiden sehr weit voneinander entfernten Tonarten miteinander in Beziehung setzt. Indem er den Tristan-Akkord und Schönbergs revolutionäre Quartharmonie aus der Kammersymphonie nebeneinandersetzt, verbindet Berg in seiner Sonate auf ganz organische Weise eine untergehende und eine entstehende Welt. Skrjabin wiederum destabilisiert, um nicht zu sagen korrumpiert die traditionelle Harmonik, indem er ihr namentlich das Intervall des Tritonus einpflanzt, und zwar sehr systematisch. So erreicht er eine Synthese zwischen einem Vermächtnis und auf eine Art seinem Gegenteil. Diese drei einsätzigen Sonaten werden durch späte Klavierstücke Liszts umrahmt bzw. vorbereitet.

WR: Die Tendenz bei Skrjabin zur Analogiebildung zwischen Musik und Farbe, oder allgemeiner: zwischen Musik und den vier Elementen, steht innerhalb einer bestimmten musikgeschichtlichen Entwicklung. Wollten Sie in der Gegenüberstellung von Liszt, Skrjabin und Messiaen in Ihrem Programm darauf hinweisen?

PLA: Es gibt ein enormes, nationen- und schulübergreifendes Bestreben von Komponisten seit dem 19. Jahrhundert, die Fähigkeit der Musik zur assoziativen Darstellung anderer Sinneswahrnehmungen extrem zu erweitern. Messiaen war nicht der Einzige, und er war nicht der Erste, der auf diesem Feld tätig war. Liszt hatte einen unglaublichen Sinn, musikalische und pianistische Texturen und Farben auf dem Klavier zu erfinden, die Skrjabin und Messiaen dann zu einer synästhetischen Vision von Klang und Farbe weiterentwickelten.

WR: Auf der zweiten CD sind Ravel und Bartók vertreten, sie gehören zu den Komponisten der Jahrhundertwende, die wohl am intensivsten auf Liszt reagiert haben.

PLA: In Bartóks Klageliedern wird der harmonische Einfluss Liszts überall greifbar; man spürt, wie weit Liszt schon gegangen war und wie vorbehaltlos Bartók bereit war, ihm zu folgen – aber er war auf der anderen Seite eine vollkommen eigenständige Persönlichkeit, die sich ganz neue Ausdruckswelten erschließen konnte. Ravel wird zweifellos von Liszt inspiriert, kommt aber zu einem ästhetischen Resultat, bei dem die Distanz und die Haltung des l’art pour l’art im Vordergrund steht.

WR: Marco Stroppa komponierte während seiner Tätigkeit als Leiter der Forschungsabteilung des IRCAM für Sie den Zyklus Miniature estrose (Wunderliche Miniaturen, 1991–2001), aus dem Sie das Stück »Tangata manu« (»Vogelmensch«, 1995) ausgewählt haben. Wie gliedert sich das Stück in Ihr Programm ein?

PLA: Das zweite Programm ist sehr systematisch aus Paarungen aufgebaut, beschreibt aber auch eine Bewegung vom Dunklen ins Licht. Den dunklen Seiten – das Zypressen-Stück Liszts und das Klagelied Bartóks – stehen die beiden lichten Wasserspiele gegenüber. Stroppas Stück – das den Mythos des Vogelmenschen behandelt, den ewigen Traum des Menschen zu fliegen – und Liszts Vogelpredigt verbindet ein ähnliches Sujet; in den beiden Stücken sind die luftigen Texturen von Flügelbewegungen und verschiedenen Flugarten inspiriert. Mit Messiaens Le Traquet stapazin und dem Vallée d’Obermann von Liszt stehen sich dann zwei große Kompositionen gegenüber, die Natur und Zeit aus unterschiedlichen Perspektiven thematisieren: bei Messiaen objektivierend als geordnete Natur und als meditatives Erleben der Zeit im Durchschreiten eines Tages; bei Liszt subjektivierend als Ringen des Künstlers mit der Nacht als Symbol des Durchschreitens der menschlichen Zeit. Der Schluss des Stücks, der eine ambivalente Verklärung ist, verherrlicht die Farbe von E-dur, einer Tonart, die in den letzten drei Stücken der CD sehr präsent ist.

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