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Denkwürdiges Recital – Emil Gilels in Seattle

Emil Gilels
© Reinhart Wolf / DG
18.08.2016
Emil Gilels war bekannt für seine glänzenden Live-Auftritte. Er liebte Musik, die sich frei entfalten kann. Obwohl ein Perfektionist ersten Ranges, lag ihm doch nichts ferner als statische, emotionslose Kunst.

Geborener Live-Performer: Emil Gilels

Der russische Pianist suchte den Moment, in dem die Musik wie von selbst tönt. Dabei war ihm klar, dass nichts so selbstverständlich ist wie die Freiheit in der Kunst. Nichts muss am Klavier so beharrlich perfektioniert werden wie die Fähigkeit loszulassen. Emil Gilels hat ein Leben lang daran gearbeitet. Er hat sich den Raum selbst geschaffen, in dem Spontaneität möglich wurde.
Wenn er die Bühne betrat und mit dem Spiel begann, war er sofort in einer anderen Welt, und man konnte nur staunen, wie frei, wie unbefangen er über die Tasten glitt, ohne jemals die Kontrolle zu verlieren. Emil Gilels war der geborene Live-Performer, und der jetzt erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Live-Mitschnitt seines Seattle-Recitals aus den frühen 1960er Jahren ist ein berührendes Zeugnis hierfür.  

Geborgener Schatz: Der Mitschnitt von Seattle

Die Aufnahme vom 6. Dezember 1964 ist seinerzeit privat angefertigt worden. Das tut der Klangqualität jedoch keinen Abbruch, denn der Mittschnitt wurde mit professioneller Technik durchgeführt. Einziger Wermutstropfen: Die Ballade Nr. 1 von Frédéric Chopin konnte nicht übernommen werden. Im Original fehlen einige Sekunden. Die Rechte der Bänder wurden der Deutschen Grammophon von Professor Felix Gottlieb übertragen.
Der renommierte Gilels-Schüler hat sich unschätzbare Verdienste um das musikalische Vermächtnis seines berühmten Lehrers erworben. Gottlieb hat 2009 die Emil Gilels Foundation gegründet, die sich um das künstlerische Erbe des russischen Jahrhundertpianisten kümmert, und mit der Freigabe der Bänder von Seattle erweist er seinem Lehrer jetzt einen großen Dienst.

Perfekte Dramaturgie: Hochemotionale Wendungen

Das Konzert von Seattle bringt den ganzen Reichtum von Gilels' hoher Klavierkunst zur Geltung. Der russische Pianist beginnt mit Beethovens Waldsteinsonate, in die er sich Hals über Kopf hineinstürzt. Das Publikum ist hingerissen und bedankt sich mit frenetischem Beifall, als Gilels inne hält und mit Chopins Variations on “Là ci darem la mano” einen poetischen Akzent setzt. Hier vollbringt er das Wunder, die überaus zarten Momente Chopins nicht fragil erscheinen zu lassen und elegant mit seinem kraftvollen Spiel zu verbinden.
Mit Prokofieff nimmt das Konzert wieder an Tempo auf. Gilels trifft den fiebrigen, modernen Ton der Klaviersonate Nr. 3 in a-Moll kongenial, und die Stimmung ist jetzt zum Zerreißen gespannt. Da ist es eine wohltuende Entlastung, dass mit Debussys Images I und Prokofieffs Visions fugitives wieder nachdenkliche Töne einsetzen. Maurice Ravels heftig pulsierendes Alborada del gracioso ist der vorläufige Schlusspunkt des Konzerts, das Gilels mit zwei grandiosen Zugaben krönt.
In Strawinskys Danse russe stellt er eindrucksvoll sein virtuos-tänzerisches Genie unter Beweis, bevor er mit dem von Siloti arrangierten Präludium in h-Moll von Johann Sebastian Bach noch einmal zartfühlend in lyrische Sphären abtaucht. Die Dramaturgie des Konzertabends ist perfekt. Alles ist aufeinander abgestimmt. Leidenschaftlich-wildem Repertoire folgen stillere Werke, bevor dann wieder Fahrt aufgenommen wird. Ein mitreißendes Recital! Ein hochindividueller Pianist, der auf keinen Fall in Vergessenheit geraten darf.      

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