ECM Sounds | News | Verwehte Blätter – Die Camerata Zürich mit einer Orchesterversion von Janáčeks visionärem Klavierzyklus "Auf verwachsenem Pfade"

Verwehte Blätter – Die Camerata Zürich mit einer Orchesterversion von Janáčeks visionärem Klavierzyklus “Auf verwachsenem Pfade”

Camerata Zürich
© Florian Kalotay/ ECM Records
22.11.2021
Die gelungene Orchesterbearbeitung eines Klavierwerks ist stets an die Voraussetzung geknüpft, dass im Original eine musikalische Essenz enthalten ist, die verschiedene Instrumentierungen nahelegt und reizvoll erscheinen lässt. Igor Karsko, Konzertmeister und künstlerischer Leiter des Schweizer Kammerensembles Camerata Zürich, hat ein solches Potenzial in Janáčeks Klavierzyklus “Auf verwachsenem Pfade” erahnt, als er seinen Geiger-Kollegen Daniel Rumler dazu anregte, das Werk für Streichorchester zu arrangieren. Die in ihrer melancholischen Erfahrungsfülle, poetischen Dichte und visionären Klanggestalt einzigartigen Miniaturen des mährischen Komponisten bringen als Orchestermusik viele neue Farben zum Vorschein. Der intime Gestus des Originals, kongenial eingefangen in András Schiffs ECM-Aufnahme von 2000, erfährt in der Fassung für Streicher eine impressionistische Weitung. 
Autobiographische Bekenntnisse 
Das manifestiert sich auf dem gerade erschienenen New Series-Album der Camerata, das neben Rumlers Orchesterbearbeitung von Janáčeks Klavierzyklus zwei genuin für Streicherorchester komponierte Werke von Antonín Dvořák und Josef Suk enthält, Zeitgenossen Janáčeks, die der romantischen Tradition näher blieben als der Solitär aus Brünn, der stimmungspoetisch neue Türen öffnete. Janáček komponierte seinen Zyklus im Zeitraum 1901–1908. Posthum erschien 1942 ein zweiter Teil des Werkes, den Daniel Rumler in seine fünfzehn Miniaturen umfassende Transkription mit aufgenommen hat. 
Im ersten Teil liegen die autobiographischen Bezüge der Komposition offen zutage. Janáček verarbeitete in dem Zyklus vor allem Erinnerungen an seine früh verstorbene Tochter Olga. Titel wie “Unsere Abende”, “Gute Nacht!” oder “In Tränen” verweisen auf gemeinsame Erlebnisse mit seinem geliebten Kind. 
Kunst der Sprachmelodie
In der Bearbeitung für Streicher rückt der lyrische Fluss des Zyklus in den Vordergrund. Die Darbietung der Camerata Zürich löst filmische Eindrücke aus. Janáčeks Stimmungswechsel vollziehen sich beinahe unbemerkt. Das gilt selbst dort noch, wo sich, wie in “Unsere Abende”, ganz unverhofft dramatische Töne in ein heiteres Geschehen mischen, denn schon in der nächsten “Szene”, “Ein verwehtes Blatt”, ist man zurück in der herbstlichen Ganzheit des Lebens, die Farbintensives und Verblichenes, Heiteres und Trauriges, Groteskes und Ernstes wie selbstverständlich verschmelzt.
Janáček hat seine eigenwillige Klangpoesie in steter Auseinandersetzung mit der heimischen Volkliedtradition entwickelt. Sein ihn mit Dvořák und Suk verbindendes Interesse an folkloristischem Rohmaterial richtet sich auf die Sprachmelodie überlieferter Texte. Dadurch besteht eine natürliche Nähe zur Dichtkunst, der die französische Schriftstellerin Maïa Brami auf dem Album ihre Stimme verleiht. 
Die Dichterin hat sich auf Anregung des langjährigen Leiters der Camerata, Thomas Demenga, in Janáčeks Leben eingefühlt und eigene Texte verfasst. Das Verwehende des Lebens, “feuille morte”, ewiger Herbst, tritt in ihrem Vortrag still fragend, staunend, wie ein scheuer, unerwiderter Ruf aus rätselhaften Tiefen hervor. Die Deklamation zwischen den beiden Teilen von Janáčeks Zyklus fügt sich organisch ins Konzept.     

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