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Texturen der Stille – Das estnische Vokalensemble Vox Clamantis mit Chorwerken von Cyrillus Kreek

Vox Clamantis
Kitfox Valentin / ECM Records
06.05.2020
Außerhalb Estlands ist der Komponist Cyrillus Kreek nur einer kleinen Minderheit von Fachleuten und Chormusik-Liebhabern bekannt. Nick Strimple erwähnt ihn in seinem Buch “Choral Music in the Twentieth Century”. Der an der University of Southern California unterrichtende Dirigent und Musikgelehrte bescheinigt Kreek in einer Nebenbemerkung, “eine bedeutende Anzahl von mehrstimmigen geistlichen und weltlichen Liedern” geschaffen zu haben, von denen “das schöne Lied ‚Blessed Are They‘ (1923) internationale Bekanntheit erlangte”. Ansonsten erfährt man wenig von dem randständigen Komponisten, der bislang offenbar vornehmlich für die estnische Musiktradition Bedeutung besaß. 
Das dürfte sich nach dem gerade erschienenen Album von Vox Clamantis ändern. Das estnische Vokalensemble durchstreift auf “The Suspended Harp of Babel” das vielseitige Chorwerk von Cyrillus Kreek. Dabei offenbaren sich Texturen der Stille, die in ihrer harmonischen Raffinesse und spirituellen Tiefe bereits auf die estnische Avantgarde um Größen wie Veljo Tormis oder Tõnu Kõrvits vorausweisen. Doch wer war Cyrillus Kreek?
Sammler, Arrangeur, Komponist: Cyrillus Kreek (1889–1962)
Cyrillus Kreek wächst an der Westküste Estlands auf. Die Familie lässt sich in Haapsalu nieder, einer kleinen, von niedlichen Holzhäusern gesäumten Stadt mit einer mittelalterlichen Kathedrale. Naturerlebnisse auf der nahegelegenen Insel Vormsi, die Brandung der Ostsee, spirituelle Impressionen und die ergreifenden Lieder einer singenden Bevölkerung – so in etwa muss man sich den Erfahrungshorizont des Heranwachsenden vorstellen, der später nach Sankt Petersburg übersiedeln wird, um am dortigen Konservatorium Posaune und im Anschluss daran Musiktheorie und Komposition zu studieren. 
Seiner Herkunft wird er sich immer verpflichtet fühlen. Vor allem die estnischen Lieder wehen ihm nach. Er beginnt Sammlungen anzulegen und arrangiert zahllose Traditionals neu. Dabei hebt er sie auf ein höheres Niveau. Sein mehrstimmiger Chorsatz, die ideenreichen und spannungsvollen Harmonien, zu denen er sich inspiriert fühlt, verleihen den Volksliedern einen neuen Geschmack. Dennoch bleibt das estnische Lied in Kreeks Händen mit der Herkunft seiner Entstehung verbunden, schon der Sprache wegen. 
Texturen der Stille
Daher macht es Sinn, dass sich mit Vox Clamantis ein einheimisches Chorensemble seiner Arrangements angenommen hat. Bekannt für seine feinfühligen Interpretationen früher Polyphonie und seine fruchtbaren Kooperationen mit Größen der zeitgenössischen Avantgarde wie Arvo Pärt oder Erkki-Sven Tüür, ist der 1996 von dem Dirigenten Jaan-Eik Tulve gegründete Kammerchor mit der estnischen Musiktradition urvertraut. Zugleich ist das Ensemble offen für Neues und weiß Grenzen zu überschreiten. Das manifestiert sich in besonderer Weise auf seinem neuen Album, das neben estnischen Liedern und Psalmvertonungen auch ein Werk von Guillaume de Machaut aus dem 14. Jahrhundert sowie behutsam an die Harmonien von Cyrillus Kreek angelehnte, instrumentale Fantasien und Zwischenspiele des zeitgenössischen italienischen Komponisten und Nyckelharpa-Spielers Marco Ambrosini enthält. 
Nachdem man die fein gewobenen Texturen der Stille durchmessen hat, mit denen Cyrillus Kreek estnische Hymnen wie “Kui suur on meie vaesus” (“Wenn unsere Armut groß ist”) oder Psalme wie “Paabeli jogede kaldail” (“An den Wassern zu Babel”) auszustatten weiß, wird man am Ende des Albums auf einen Grenzgang mitgenommen, der Klangwelten aus mehreren Jahrhunderten miteinander verbindet. 
Überraschende Collage
Die geistliche Hymne “Oh Jeesus, sinu vali” (“O Jesus, dein Schmerz”), intoniert von einer weiblichen Solostimme, wird zweimal von Machauts instrumental dargebotenem Lied “Dame, vostre doulz viaire” unterbrochen. Anna Liisa Eller stimmt das Lied an der Kannel, einer griffbrettlosen Kastenzither, an. Marco und Angela Ambrosini begleiten sie an der Nyckelharpa, einem schwedischen Streichinstrument, dessen Saiten durch die Betätigung von Tasten verkürzt werden. Nach der Unterbrechung erfährt die Hymne unter instrumentaler Begleitung ihre Fortsetzung, bevor ein weiteres Zwischenspiel erfolgt, das schließlich in eine kanonische Bearbeitung der Hymne durch Cyrillus Kreek und eine geheimnisvoll-düster anmutende, vierstimmige Anverwandlung des deutschen Chorals “O Haupt voll Blut und Wunden” mündet.   
Bestechend an der Collage ist, mit welcher Selbstverständlichkeit sie funktioniert. Die einzelnen Elemente finden ganz automatisch zueinander. Das beweist, wie enorm weit der musikalische Horizont ist, den Cyrillus Kreek aufgespannt hat.    

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