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Schulen der Empfindsamkeit – Das Duo Gazzana mit Werken von Schumann, Grieg und Kõrvits

Duo Gazzana
17.11.2022
Das Duo Gazzana ist bekannt für seine hochgespannten Programme. Sowohl auf der Bühne als auch in seinen Aufnahmen pflegt es scheinbar weit auseinanderliegende Komponisten zusammenzuführen und miteinander in Schwingung zu bringen. Natascia Gazzana an der Geige und Raffaella Gazzana am Klavier, die sich Mitte der 1990er Jahren zum Duo Gazzana formierten, konnten in allen Alben für die New Series überraschende Korrespondenzen in der Musikgeschichte aufdecken. 
Dabei erstreckte sich ihr Repertoire von Komponisten der Romantik und Spätromantik wie César Franck oder Leoš Janáček über ein breites Feld von Avantgardisten des 20. Jahrhunderts wie Maurice Ravel, Olivier Messiaen, Alfred Schnittke oder Tōru Takemitsu bis hin zu lebenden Größen der zeitgenössischen Musikszene wie Valentin Silvestrov. Stärker als ihre bisherigen Veröffentlichungen zehrt ihr soeben erschienenes, viertes New Series-Album von einem fundamentalen Gegensatz.  
Gefühle der Weltfremdheit
Den Violinsonaten von Edvard Grieg und Robert Schumann, die sie auf dem Album präsentieren, stehen mit der „Stalker Suite“ (2017) und den „notturni“ (2014) von Tõnu Kõrvits zwei Werke der Gegenwart gegenüber, die beim ersten Hören nur schwer mit dem romantischen Lebensgefühl des 19. Jahrhunderts in Zusammenhang zu bringen sind. Kõrvits hat diese beiden Werke eigens für die Geschwister Gazzana geschrieben. Sie erscheinen auf ihrem neuen Album als Ersteinspielungen. 
Die Stalker Suite ist von Tarkowkis Film „Der Stalker“ (1979) inspiriert, einem Klassiker des Science-Fiction-Genres, der in eine fremde, irritierende Welt rätselhafter Erscheinungen führt. Wie in dem Film, so entsteht auch in der Musik von Kõrvits ein Gefühl der Weltfremdheit, der Irritation über die Dinge, die sich vor unseren Augen zutragen. Kõrvits besitzt die Fähigkeit, mit seiner Musik Staunen auszulösen. Seine minimalistisch angehauchte Klangpoesie birgt zarte, hoffnungsvolle Momente. 
Schulen der Empfindsamkeit
Sie erzeugt aber auch ein Gefühl des Verlorenseins. Das Duo Gazzana fängt diese Stimmung kongenial ein. An den dunklen Stellen der Stalker Suite drängt sich unwillkürlich Rückerts Satz „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ auf. Das lenkt den Blick auf Schumann, der viele Gedichte von Friedrich Rückert vertont hat. Schumann kannte Empfindungen der Weltentfremdung. Sie hatten bei ihm aber keinen dystopischen, Tarkowki-artigen Gehalt, sondern eher eine sehnsuchtsvolle oder melancholische Tönung. 
Das Duo Gazzana veredelt die Melancholie in Schumanns Violinsonate Nr. 1 in a-Moll, op. 105 (1851) mit gesanglichen Mitteln und tänzerischen Akzenten. In Griegs Violinsonate Nr. 3 in c-Moll, op. 45 (1887) dominiert dagegen ein leidenschaftlich-impulsiver und flirrender Ton, der sich immer wieder in zarte, schwebende Stimmungen verwandelt. Am Ende des Albums hat man das Gefühl, durch verschiedene Schulen der Empfindsamkeit gegangen zu sein, der Link zwischen Schumann, Grieg und Kõrvits.
 

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