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Sanfte Lichter – Gidon Kremer spielt Giya Kancheli

Giya Kancheli, Patricia Kopatchinskaja, Gidon Kremer
© Martynas Sirusas / ECM Records
01.10.2015
Das Dunkle ist seine bevorzugte Domäne. Giya Kancheli befasst sich wie kein zweiter Gegenwartskomponist so eindringlich mit der Nachtseite des menschlichen Lebens. Dabei entdeckt er ihre verborgenen Schönheiten.

Tiefer Tost: Die dunkle Kunst von Giya Kancheli        

Das Leiden am Leben ist in Kanchelis Musik alles andere als depressiv. Es ist schön und bereichernd. Es schlägt Brücken zur Welt. Es ist mitfühlend und ehrlich. Kanchelis Klänge sind so wehmütig wie ergreifend. Sie stimmen den Hörer gnädig, machen ihn weich, und das ist, bei aller Heftigkeit einer so schonungslosen Musik, unendlich tröstlich. “Ich nehme mir zu Herzen, was um mich herum passiert”, so der 80-jährige Georgier im Booklet seines neuen Albums.
Und wofür er ein besonders scharfes Auge hat, das ist die Unvollkommenheit der Welt, die auch durch Musik nicht zu überwinden ist, sondern nur ehrlichen Herzens betrauert werden kann. “Man wird hier keinen Aufruf zum Kampf, zur Gleichberechtigung, zu einer leuchtenden Zukunft finden. Was hier aufgenommen wurde, ist eher ein bitteres Bedauern”, so Kancheli weiter. Dass er aber gerade hiermit zu berühren versteht, dass sein Mut und seine Ehrlichkeit beim Publikum ankommen, das bekräftigt den hohen Wert seiner Kunst.   

Sanfte Lichter: Gidon Kremer spielt Chiaroscuro

Denn seine Musik findet tatsächlich großen Anklang, und das dürfte nicht zuletzt auch damit zu tun haben, dass in den dunklen Landschaften seiner Elegien sanfte Lichter aufscheinen, auf deren Existenz Verlass ist. Sie sind kein Trug. Sie gibt es wirklich. Denn falscher Trost ist bei Kancheli tabu. Der Komponist spielt nicht. Er gaukelt nichts vor, sondern bietet subtile Kontraste, und auf seinem neuen Album zeigt sich seine Meisterschaft auf diesem Gebiet in vollendeter Form.
Giya Kancheli: Chiaroscuro” enthält zwei Kompositionen des großen Georgiers: das titelgebende “Chiaroscuro” (2010) und “Twilight” (2004). Beide Werke sind wie maßgeschneidert für Gidon Kremer, den Kancheli als eine Art Mitschöpfer und ständigen Begleiter seines Komponierens betrachtet. “Gidons Persönlichkeit schwirrt immer durch meinen Kopf. Das hilft mir, selbst wenn ich an Werken für andere Musiker arbeite.” Gidon Kremer seinerseits ist überaus dankbar, so eng mit Kancheli zusammenarbeiten zu dürfen.

Filmische Intensitäten: Hell-Dunkel-Kontraste

Und der begnadete Geiger aus Lettland, der heute zu den größten Künstlern seines Faches zählt, revanchiert sich auf seine Weise: mit unnachahmlich scharf geschnittenem Spiel, das doch niemals schroff wirkt, sondern überaus weich bleibt. Das passt zu Kanchelis “Chiaroscuro”. Das Werk lebt von seinen langen Linien genauso wie von seiner inneren Dramatik und den diskreten Kontrasten. Kremer und sein berühmtes Kammerensemble, die Kremerata Baltica, beherrschen beides: elegisches, poetisch eindringliches Spiel und subtile Kontraste.
Das ist auch der Witz von “Chiaroscuro”, denn wie der aus der Renaissancemalerei stammende Begriff schon besagt, geht es in der Komposition um Hell-Dunkel-Kontraste. Die Bezeichnung trifft den Nagel auf den Kopf, kann man sich das Werk doch gut als Musik zu einem epischen Schwarz-Weiß-Film vorstellen. Man denke an Filme von Ingmar Bergman, bei denen es um tragische Liebe geht und mit behutsamen Lichteffekten tiefe Stimmungen erzeugt werden.
Das zweite Werk auf dem Album ist nicht minder dunkel, wenn es bisweilen auch deutlich verträumter und versöhnlicher klingt. Es ist für zwei Geigen komponiert, und Gidon Kremer spielt es kongenial mit seiner Kollegin Patricia Kopatchinskaja. Mit “Twilight” führt es ebenfalls eine Lichtmetapher im Titel. Kancheli scheint das Licht zu suchen, und was bezeichnend ist: Er findet es mit seiner Musik, die ein unendliches Dunkel zu durchschreiten scheint und doch immer wieder an Lichtungen kommt.    

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