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Remember me, my dear – Jan Garbarek und das Hilliard Ensemble live

Hilliard Ensemble - David James, Steven Harrold, Roger Covey-Crump, Gordon Jones, Jan Gabarek
© Thomas Krebs / ECM Records
16.10.2019
Im Jahre 1993 brachte der Münchener Musikproduzent und ECM-Gründer Manfred Eicher erstmals den norwegischen Saxophonisten Jan Garbarek mit dem britischen Vokalquartett The Hilliard Ensemble zusammen. Das Treffen fand in einer über tausend Jahre alten Benediktinerpropstei in Österreich statt. Das ehemalige Kloster St. Gerold in Vorarlberg verbindet ganz selbstverständlich Altes und Neues miteinander. So erblickt man in der schlicht gestalteten Kirche mit der Kassettendecke aus dem 16. Jahrhundert an der Altarwand ein modernes Fresko des Schweizer Malers Ferdinand Gehr. Im Inneren des Betrachters entstehen sofort Verbindungen zwischen den Zeiten, zumal die geheimnisträchtige Akustik des Kirchraums unmittelbar das Gefühl weckt, dass uns von Ferne etwas Bedeutendes anweht: eine seltsam schwebende Atmosphäre, eine spirituelle Stimmung, die beinahe jedem Ton etwas Erhabenes verleiht. 

Altes und Neues

Altes und Neues an einem Ort, dazu eine subtile Akustik – Manfred Eicher wird gewusst haben, warum er die modernisierte Propstei aus dem 10. Jahrhundert wählte, um Jan Garbarek und das Hilliard Ensemble zusammenzubringen. Das britische Vokalquartett war mit wegweisenden Interpretationen alter Vokalmusik bekannt geworden, besaß aber auch ein Faible für moderne Komponisten wie Arvo Pärt oder John Cage. Jan Garbarek kam vom Jazz her. Eines seiner wichtigsten Vorbilder war der US-amerikanische Saxophonist John Coltrane, bevor norwegischer Folk immer stärker ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückte. Durch die Beschäftigung mit dem Kontrapunkt bei Palestrina erarbeitete sich Garbarek einen Zugang zu Techniken der Alten Musik. 
Schnittmengen zwischen dem improvisierenden Saxophonisten und dem historisch bewanderten Gesangsquartett bestanden also. Sie erklären aber nicht die Synergien, die das gemeinsame Musizieren hervorrief und die zur Entstehung einer vollkommen neuen Klangpoesie kontemplativer Prägung führten.  

Officium

Dass es Sinn macht, wenn ein experimentierfreudiger Saxophonist über von den Hilliards gesungene Motteten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit improvisiert, erlebte das Publikum im Jahre 1994, als mit “Officium” das erste Album der ungewöhnlichen Konstellation erschien. Die Veröffentlichung geriet zu einem Welterfolg, und fünf Jahre später kam mit “Mnemosyne” ein weiteres Album der Gruppe heraus, das den Horizont des Projekts um modernes Repertoire erweiterte. Als Schlussstein der Kooperation galt bislang “Officium Novum” aus dem Jahre 2010. Das Album setzte neue Akzente mit armenischer Musik in der modernen Adaption von Komitas Vardapet

Denkwürdiges Konzert 

Jetzt erscheint völlig unverhofft ein weiteres Album des legendären Projekts, das heute ganz selbstverständlich unter dem Namen “Officium” firmiert. “Remember me, my dear” verdankt sich einem Live-Mitschnitt aus dem Jahre 2014 während der Abschiedstournee der Hilliards. Bei dem Auftritt in der Kollegiatskirche St. Peter und Stefan in Bellinzona im Schweizer Tessin interpretierten die Sänger und der Saxophonist Repertoire aus allen drei Alben ihres gemeinsamen musikalischen Erfahrungsraums. Neben Werken von Pérotin, Hildegard von Bingen, Guillaume le Rouge, Antoine Brumel, Nikolai N. Kedrov, Komitas, Arvo Pärt und Jan Garbarek erklangen Arbeiten anonymer Tonschöpfer, darunter mit “Procurans odium” aus den Carmina Burana auch ein Novum im Officium-Repertoire.
Das musikalische Spektrum der Aufführung ist erstaunlich breit. Zwischen den geheimnisvoll-düsteren Gesängen von Komitas' “Ov zarmanali”, die Garbarek wie ein einsamer Rufer in der Wüste mit sehnsuchtstrunkenen Seufzern begleitet, und dem sanftmütigen schottischen Lied “Remember me, my dear”, bei dem der Saxophonist nahe an der Melodie bleibt, liegen Welten. Verbunden werden sie durch den spirituellen Atem der Interpretation, die nie nachlassende Konzentration der Darbietung und die weite Akustik des Kirchraums.

Die sechste Stimme

“Im richtigen Raum”, so Gordon Jones, Bariton der Hilliards, “hatten wir das Gefühl, als habe sich unserer Mischung sogar noch eine sechste Stimme hinzugesellt – wie in der Kirche in Bellinzona.” Der Klang in dem wuchtigen Gebäude aus dem 15. Jahrhundert ist expansiver als in der intimen Propsteikirche St. Gerold, wo die drei bisher erschienenen Officium-Alben aufgenommen wurden. Dabei fügt sich das Raumvolumen seltsam magisch zu der Gestimmtheit der Sänger. Die Hilliards haben in dem Projekt mit Garbarek, wie sie selbst bekennen, nach anfänglicher Vorsicht eine immer größere Freiheit gewonnen. Das jetzt erschienene Live-Album, Frucht einer 21 Jahre währenden Zusammenarbeit, ist ein klangliches Zeugnis dieser Weite.

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