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Poesie des Vergehens – Der Schweizer Geiger und Komponist Paul Giger mit seinem neuen Album “Ars moriendi”

ECM Sounds
Fernando Obieta / ECM Records
26.08.2022
Paul Giger hat sein siebtes ECM-Album veröffentlicht. Auf dem Programm stehen Werke von Bach, eigene Kompositionen des Geigers sowie Aneignungen von überliefertem Material aus der Schweizer Musiktradition. 
Paul Giger hat mit Alben wie “Chartres” (1989), “Alpstein” (1991) oder “Towards Silence” (2007) die Geschichte von ECM maßgeblich mitgeprägt. Der Schweizer Geiger und Komponist ist bekannt für seine ureigene Klangpoesie, die asiatische und europäische, klassische und improvisatorische Elemente eigenwillig miteinander verbindet. Sein neuestes New Series-Album kann als sein bislang repräsentativstes gelten. “Ars moriendi” verbindet wesentliche Bestandteile seines musikalischen Schaffens: Gigers tiefe Verwurzelung in der Schweizer Tradition, seine Bewunderung Bachs, seine improvisatorische Leidenschaft, seine kompositorische Produktivität sowie die zahllosen Eindrücke, die er von außereuropäischen Musikkulturen empfangen hat.
Den Löwenteil des Repertoires bildet Musik aus einem Soundtrack, den Giger zu Christian Labharts Dokumentarfilm “Giovanni Segantini – Magie des Lichts” (2015) beigetragen hat. Der Film und der starke Eindruck von Segantinis Triptychon “Werden – Sein – Vergehen” hat in Giger die Idee der ars moriendi, der Kunst des Sterbens, wachgerufen. Sein musikalisches Bestreben richtet sich auf eine Klangpoesie des Vergehens, die er auf seinem neuen Album an Werken Bachs, an eigenen Kompositionen sowie an Adaptionen folkloristischen Materials aus der Schweizer Tradition zu erproben sucht.
Soghafte Atmosphäre
Dabei entwickelt er ein Stimmungsspektrum, das von wehmütigen Klängen über elegische Töne bis hin zu einer soghaften Atmosphäre der Unheimlichkeit reicht. Typisch für die elegischen Stimmungen sind die Bach-Interpretationen, allen voran das für Geige und Cembalo eingerichtete Orgel-Choralvorspiel “Ich ruf’ zu dir, Herr Jesu Christ” (BWV 639), das Giger mit technisch makellosem Legato zu der diskreten Cembalo-Begleitung Marie-Louise Dählers darbietet. Seine eigenen Kompositionen entfalten dagegen oft eine Aura erwartungsvoller Spannung, die Giger mit hohen Tönen im Zusammenspiel mit perkussiven Effekten Pudi Lehmanns zu erzeugen versteht. 
Exemplarisch dafür: “Agony II”, bei dem sich Giger vom Carmina Quartett, von Dähler am Cembalo und von seinem Perkussionisten begleiten lässt, der mit Gongs, Klangschalen und dem Muschelhorn einen ebenso geheimnisumwitterten wie unheimlichen Resonanzraum schafft. Darauf reagiert der Streicher auf seinem 11-saitigen Violino d’amore mit schwebend anmutenden, introvertierten Fantasien.
Kunst des Ausklingens
In “Altus solo II” aus Gigers ägyptisch inspiriertem Werk “Per Em Hru” klingen lyrische Töne an, denen der Countertenor Franz Vitzthum eine besondere Intensität verleiht. Als Höhepunkt des Albums kann Gigers Aneignung des “Guggisberglied” gelten, einem Schweizer Traditional, das von unerfüllter Liebe und Tod handelt. Den klagenden Inhalt entfaltet der Solist in einer fast 19-minütigen Meditation auf dem Violino d’amore, mit dem er mehrere Stimmen aufgenommen und im Studio bearbeitet hat. 
Die auf Idiome südindischer Musik zurückgreifende Klangcollage hinterlässt trotz ihrer zehrenden Wehmut einen tröstlichen Eindruck. Giger, der am 26. August 2022 seinen 70. Geburtstag feiert, gelingt es auf seinem Album durchgängig, die Kraft der Musik zu beschwören, Gefühle des Schmerzes über Abschied oder menschliche Endlichkeit in erbauliche Empfindungen zu verwandeln.

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