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Natur als Spiegel der Seele – Neuere Werke von Thomas Larcher

Thomas Larcher
06.10.2023
Thomas Larcher ist dafür bekannt, dass er sich nie den Trends der Avantgarde unterworfen hat. Stattdessen suchte er auf dem schmalen Grat zwischen Tradition und Moderne seinen eigenen Weg. Larcher sei, so der US-amerikanische Musikkritiker Alex Ross in der Kulturzeitschrift The New Yorker, “ein unberechenbarer, freidenkender Komponist”. Er habe sich von den “modernistischen Zwängen, die die mitteleuropäische Musik lange Zeit beherrschten”, unabhängig gemacht. 
Das freie Feld, das sich ihm dadurch bot, nutzte er, um eine atmosphärisch dichte Klangpoesie zu schaffen, deren hervorstechendstes Merkmal das lebhafte Wechselspiel zwischen lyrischer Melodik und einer breiten Palette von perkussiven Elementen ist. Diese Qualitäten kann man auch auf seinem neuesten Album erleben, das nach “Naunz” (2001), Ixxu (2006) und Madhares (2011) sein viertes als Komponist in der New Series von ECM ist. Der Titel des neuen Albums lautet “The Living Mountain”.
Natur als Spiegel der Seele
Obgleich es Larcher widerstrebt, auf einen Komponisten der Natur reduziert zu werden, spielen alpine Impressionen in seinem Schaffen eine Rolle. Das titelgebende Werk “The Living Mountain”, komponiert für Sopran und Ensemble, ist ein beredtes Zeugnis hierfür. Entstanden ist die Arbeit in den Jahren 2019/20. Neben “Ouroboros” für Violoncello und Kammerorchester (2015) und “Unerzählt” für Bariton und Klavier (2019/20) ist es eines von drei Werken, die Larcher auf seinem neuen Album als Ersteinspielungen präsentiert.
Inspiriert ist “The Living Mountain” von dem gleichnamigen Buch der schottischen Dichterin Nan Shepherd. Die Autorin schildert darin Eindrücke beim Wandern in den Cairngorms, einer Berggruppe der Grampians im Nordosten Schottlands. Larcher, der aus Innsbruck stammt und mit der Bergwelt urvertraut ist, fühlte sich von Shepherds Erinnerungen spontan angesprochen. Er verarbeite sie zu kurzen Textfragmenten und vertonte sie schließlich.
Die französisch-zypriotische Sopranistin Sarah Aristidou deklamiert die Texte mit expressiver Wucht. Man spürt in ihrem Gesang, den das Münchener Kammerorchester mit vielen perkussiven Elementen, aber auch mit feinen melodischen Linien untermalt, dass Shepherd im Medium von Worten wie Schnee, Nebel oder Wolken nicht nur Naturphänomene beschreibt, sondern auch Grenzerfahrungen ihres Seelenlebens reflektiert.   
Pulsierend und lyrisch  
Eine introvertierte Atmosphäre des Tastens und gravitätischen Schreitens, versetzt mit plötzlichen Eruptionen, verströmt der Liederzyklus “Unerzählt” nach Gedichten von W. G. Sebald. Der italienische Bariton Andrè Schuen dringt mit seiner voluminösen Stimme tief in die dunkle Poesie des deutschen Schriftstellers ein. Enorm gefordert ist der junge Weimarer Pianist Daniel Heide, der nicht nur die Harmonien zu liefern hat, sondern das Klavier auch quasi-perkussiv, pulsierend in Gebrauch nehmen muss. 
In “Ouroboros” beeindrucken die Passagen stiller Klangpoesie, die von Ferne an Arvo Pärt erinnern. Die hellen Streicherklänge zu Beginn und im dritten Satz wirken beinahe idyllisch. Alisa Weilerstein kontrastiert sie in ihrem Cello-Monolog mit einem Ton bohrender Nachdenklichkeit. Doch auch in Ouroboros verzichtet Larcher nicht auf rhythmische Heftigkeit, die er wie kaum ein anderer Komponist der Gegenwart auf organische Weise mit lyrischer Intimität zu verbinden weiß.

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