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Musik der Worte – Christian Reiner liest Brodsky

Joseph Brodsky - Elegie an John Donne
© ECM New Series
23.08.2017
Es ist eine große Kunst, avantgardistische Poesie zum Klingen zu bringen. Eines der Wesensmerkmale moderner Dichtkunst ist ihr hoher Anteil an prosaischen Momenten.

Musik der Worte: Christian Reiner

Die Musik hinter den Worten muss erst entdeckt werden. Sie liegt nicht offen zutage, sondern verbirgt sich oft hinter erzählerischen Strukturen. Für Christian Reiner liegt hierin ein besonderer Reiz. Der Wiener Schauspieler, Stimm- und Sprechkünstler liebt es, sich auf den Weg zu machen, den Worten nachzuspüren und ihre Musikalität im direkten Vollzug des Sprechens zu erschließen. Wie sehr ihm diese Arbeit liegt, untermauerte er bereits mit seinem ECM-Debut im Jahre 2012.
Auf dem Album deklamierte er Gedichte von Friedrich Hölderlin, die der schwäbische Romantiker im Turm der Familie Zimmer in einem Zustand geistiger Umnachtung verfasst hatte. Sein eindringlicher Vortrag dieser rätselhaften Sprachgebilde trug Christian Reiner den Ruf eines Spezialisten für die Musik der Worte ein. “Der Gedichtvortrag”, so charakterisierte die Süddeutsche Zeitung sein Hölderlin-Album, “gleicht einer Performance für das Soloinstrument Stimme.”

Erratischer Brocken: Joseph Brodsky (1940–1996)

Mit Hölderlin bewegte sich Reiner freilich noch in den Sphären einer Poesie, die bei aller vorausweisenden Modernität dem liedhaften Ursprung des Gedichts verpflichtet blieb. So rätselhaft und verschlungen seine Verse auch anmuten, Hölderlins Dichtkunst schwingt. Die Musikalität seiner Poesie legt sich nahe. Verschlossener ist da schon das dichterische Werk Joseph Brodskys, dem sich Christian Reiner auf seinem neuen ECM-Album widmet.
Der russisch/US-amerikanische Dichter und Literaturnobelpreisträger ist ein erratischer Brocken. Seine Poesie ist von schroffer Schönheit und Einzigartigkeit. Joseph Brodsky drückt seine Wahrnehmungen und sein inneres Erleben, das von leidvollen Erfahrungen genauso gezeichnet ist wie von einer unbändigen Lust an differenzierten Betrachtungen, direkt aus, ohne Umschweife. Aber wie entspringt daraus Musik? Wie findet der ebenso prosaische wie seltsam magische Ton des Dichters zum Klang?

Die Kunst der Pausen: Wort und Stille

Christian Reiner führt es vor. Der Wiener Schauspieler arbeitet geschickt mit Pausen, in denen die Worte des Dichters nachklingen können. Im Wechsel von Wort und Stille entsteht der ureigene Rhythmus, den der Rezitator anschlägt. Besonders gelungen ist dies in “Große Elegie für John Donne”, dem berühmten Langgedicht von Joseph Brodsky, das zugleich den Titel des Albums bildet.
John Donne war ein bedeutender britischer Schriftsteller, den Joseph Brodsky zutiefst bewunderte. Er stellt ihn sich im Gedicht zunächst als Einschlafenden vor, der die Gegenstände um sich herum mit in den Schlaf zieht. Christian Reiner hat zwei Übersetzungen des Gedichts eingelesen und sich dabei für unterschiedliche Rhythmen entschieden. Die längere Version, in denen er mit gedehnten Pausen arbeitet, klingt beobachtender.
Es ist, als schreite der Rezitator durch den Raum, betrachte jeden einzelnen Gegenstand und versuche sich selbst mit den Dingen in den Schlaf zu wiegen. In der kürzeren Fassung berühren sich die Worte wechselseitig, ein sanft schwingendes Legato entsteht, das später unterbrochen wird. Mit rhythmischen Akzenten dieser Art und seiner wohltönenden, tiefen Stimme öffnet uns Christian Reiner die poetische Musikalität Joseph Brodskys.    

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