Eines der außergewöhnlichsten Alben im New Series-Programm von 2022 war
Evgueni Galperines “
Theory of Becoming”. Der russisch-ukrainische Komponist präsentierte mit akustischen und elektronischen Ressourcen eine ureigene Klangpoesie, die in ihrer reduzierten Gestalt von Ferne an
Arvo Pärt erinnerte. “Eines der eigenständigsten und evokativsten Alben des Jahres”, konstatierte denn auch Thierry Jousse bei
France Musique. Und in den USA staunte Krtiker Tom Huizenga vom Sender
NPR: “Wenn man einen Komponisten für die Vertonung seiner Träume engagieren könnten, wäre Evgueni Galperine wahrscheinlich der Richtige dafür. Galperine weiß um die suggestive Kraft, die wortlose Musik entfalten kann.”
Unter den nachschaffenden Künstlerinnen und Künstlern der New Series rief der lettische Geiger
Gidon Kremer 2022 besonders starke Pressereaktionen hervor.
Seine Einspielung der drei Sonaten für Violine solo von
Mieczysław Weinberg wurde von der Kritik unisono für ihren Farbenreichtum und die persönliche Hingabe des Solisten gelobt. Man könne “nur davon überwältigt sein”, so das
Magazin Rondo stellvertretend für viele Kritiken, “wie Kremer sich auf diese schicksalstrunkene, schnell entflammbare” Musik einlasse. Und in der Süddeutschen Zeitung schrieb Harald Eggebrecht: “Die neue CD mit den drei Violin-Solosonaten von Mieczyslaw Weinberg (1919 – 1996) teilt bei aller gewollten Einsamkeit dieser Musik etwas Essenzielles vom Solisten mit: Kremer geigt nie mutterseelenallein vor sich hin, sondern erfüllt diese schmerzliche, manchmal dumpf verhangene oder in hysterische Wildheit ausbrechende Musik als kreativen Akt der Selbsterforschung. So zumindest der Eindruck, weil Kremer die Stücke nicht in ihrer Außenansicht präsentiert, sondern so behutsam wie konsequent in ihren Kern eindringt. Für den aufmerksamen Zuhörer wird das zum erregenden Abenteuer.”
Hochgespannte Kammermusik
Der
SWR befasste sich mit dem
neuen Album des Duo Gazzana, das neben Violinsonaten von
Grieg und
Schumann zwei eigens für
Natascia (Geige) und
Raffaella Gazzana (Klavier) geschaffene Werke des estnischen Komponisten
Tõnu Kõrvits enthielt. Es sei “etwas kolossal Ungeschminktes in beider Spiel”, befand
Christine Lemke-Matwey, die aus der Darbietung der “Stalker Suite” (2017) des Esten eine starke Identifikation der Geschwister Gazzana mit der Musik von Kõrvits heraushörte und sich auch von ihrer Grieg-Interpretation angetan zeigte: “Nächtlich geht es auch am Schluss ihrer neuen CD zu, zumindest zu Beginn, in der c-Moll Sonate von Edvard Grieg. Eine große Konzertsonate, die gerne ‘groß’ gespielt wird, mit mächtig Wumms und Emphase. Die Gazzana-Schwestern disponieren hier anders: leichter, durchsichtiger, feingliedriger. Das rückt Grieg in ein neues Licht – und tut auch uns als Zuhörenden gut.”
Auch in Frankreich gab es für die Einspielung großes Lob von prominenter Stelle – Pierre Gervasoni befand in Le Monde: "Während Schumanns Sonate Nr. 1 elegant und mit Leidenschaft interpretiert wird, erreichen die beiden italienischen Schwestern in der Sonate Nr. 3 von Grieg italienischen neue Höhen instinktiver Expressivität. Besonders im Mittelsatz, einer Romanze, die Natascia auf der Violine “singt”, als ob der Komponist sie ihr ins Ohr flüstern würde, und die Raffaella auf dem Klavier mit großer Imaginationskraft, wie sie aus den “Lyrischen Stücken” des norwegischen Meisters rüberweht, begleitet."
Das
Danish String Quartet setzte 2022 seine Grammy-nominierte Prism-Serie fort. Im Zentrum von “
Prism IV” stand Beethovens spätes Streichquartett Nr. 15 in a-Moll, op. 132. Im britischen
Guardian befand Fiona Maddocks: “Diese Musiker haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Quartettrepertoire frisch zu halten. Sie gehen Beethovens geheiligtes Spätwerk (das im dritten Satz den ‚Heiligen Dankgesang‘ enthält) eher mit einem Gefühl von Abenteuer und Freiheit als mit gewichtiger Ehrfurcht an. Präzise, geschmeidig, flexibel.”
Solistische Leistungen
Ein starkes Zeichen auf dem Gebiet der historischen Aufführung setzte die New Series im September mit
Robert Levins Gesamtaufnahme der Klaviersonaten von Mozart, eingespielt auf dem Hammerklavier des Komponisten selbst, das um 1782 von
Anton Walter gebaut wurde. Das
BBC Music Magazine kürte die Edition zur Aufnahme des Monats und attestierte dem Pianisten, der die Wiederholungen der Sonaten mit Improvisationen im Mozart-Stil gestaltete, “eine leidenschaftliche Einfühlung in die sprunghafte Einbildungskraft des Komponisten”. Auch in Frankreich wurde die Gesamtaufnahme mit dem “
Diapason d´Or” sowie einem “
Choc” im Fachmagazin Classica geehrt.
Und in der Rheinischen Post jubilierte Wolfram Goertz: “Eine wundervolle Edition. Der ganze Klaviersonaten-Mozart mit tausenderlei Überraschungen. Entzückend die späte B-Dur-Sonate mit fast romantisch vorausschauender Poesie. Stürmisch, auch im Unterholz, die ‘Jagd-Sonate’ D-Dur. Ein Ideenfest die oft unterschätzte ‘Sonata facile’.”
Ein Soloprogramm aus vier Jahrhunderten, mit Werken von
Hildegard von Bingen,
Bach,
Ysaÿe,
George Enescu und
George Benjamin, bestritt die deutsche Geigerin
Carolin Widmann in diesem Jahr bei ECM. “Viel feine Musik, dargeboten mit Widmanns bekannter Expertise und Intelligenz”, urteilte der britische Schriftsteller Geoff Andrew über das Album. Widmann gelinge das Wunder, durchgängig ihrer eigenen Stimme Gehör zu verschaffen, zollte
Le Monde der Geigerin Respekt. Und in der
Süddeutschen Zeitung stellte Wolfgang Schreiber fest: "Die Komponistin, mit der Widmann ihren Parcours eröffnet, ist Hildegard von Bingen, Jahrgang 1098. […] Ihr kurzes Antiphon ‘Spiritus sanctus vivificans vita’ kann im verinnerlichten Spiel der Geigerin betören, die einstimmige Melodie fließt schmucklos dahin, um sich dann aufzuschwingen zum großen Gesang. […] Wie improvisiert wirkt die Fantasie concertante von 1932 des noch immer unterschätzten Rumänen George Enescu, die drei filigranen Miniaturen des britischen Messiaen-Schülers George Benjamin, komponiert 2022, glänzen in Carolin Widmanns feiner Schattierungskunst. Die fünfte Sonate des Belgiers Eugène Ysaÿe gibt der ECM-Aufnahme den schönen Titel: ‘L’Aurore’, die Morgenröte. Johann Sebastian Bachs zweite Partita, mit der legendären Ciacona, bekräftigt den Weg einer Violinistin, die der Virtuosität misstraut, nichts leicht nimmt, aber sehr intensiv denken kann.“