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Hommage an die Geige – Carolin Widmann mit einem Soloprogramm aus vier Jahrhunderten

Carolin Widmann
16.06.2022
Carolin Widmann ist bekannt für ihre schnörkellose Virtuosität. Ihr Geigenspiel kommt ohne große Gesten aus. Sie pflegt einen dezenten, fein austarierten Ton, der die Musik für sich selbst sprechen lässt. Seit 2007 nimmt die deutsche Geigerin für das Münchener Label ECM New Series auf. Sie erwarb sich dort mit einem breitgespannten Repertoire, das sich von romantischer bis hin zu avantgardistischer Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts erstreckte, den Ruf einer ausdrucksmächtigen Solistin, die sich mit viel Geschick heterogener Klangwelten anzunehmen vermag. Ob sie sich dabei nun Schubert oder Schumann, Morton Feldman oder Erkki-Sven Tüür näherte, stets stellte sie sich in den Dienst des jeweiligen Komponisten. 
Das macht sie auf ihrem neuen Album zwar auch. Im Unterschied zu früheren Veröffentlichungen tritt sie dort aber persönlich stärker in Erscheinung. Mit L’Aurore präsentiert sie erstmals in der New Series ein Programm, das ausschließlich der Sologeige gewidmet ist. Dazu stellt sie Literatur vor, die ihr besonders am Herzen liegt und die sich ferner eignet, die Ausdrucksmöglichkeiten der Geige voll auszureizen.
Intimes Album
Das Repertoire umspannt einen Zeitraum von fast 1000 Jahren. Zur Darbietung gebracht werden Werke aus vier Jahrhunderten: Neben Hildegard von Bingens Gesang “Spiritus sanctus vivificans vita” aus dem 12. Jahrhundert erklingen Bachs Partita Nr. 2 in d-Moll aus den Jahren 1717 bis 1723, Ysaÿes Sonate Nr. 5 in G-Dur von 1923, George Enescus “Fantaisie concertante” von 1932 sowie die 2001 und 2002 entstandenen “Three Miniatures” des britischen Gegenwartskomponisten George Benjamin
Das Album setzt mit Hildegards Antiphon ein. Widmann liebt das Stück der deutschen Mystikerin, wie sie in dem lesenswerten Booklet-Interview gegenüber Max Nyffeler bekennt. In der für Violine bearbeiteten Fassung ist eine sanft fließende, einfache Melodie zu hören, deren sammelnde Wirkung berührt. Stimme und Gesang bilden die Grundlage unserer gesamten Musiktradition, ist Widmann überzeugt, und rückt mit Hildegards Komposition den kantablen Charakter der Geige ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Die Kunst des Loslassens
Mit den Werken des 20. Jahrhunderts demonstriert die Geigerin ein breites Spektrum der expressiven und virtuosen Potenziale ihres Instruments: von den scharf schneidenden Tönen in Enescus rauschhafter Fantasie über die asketische Aphoristik in Benjamins Miniaturen bis hin zu Ysaÿes tiefsinniger Sonate mit ihren kontemplativen und tänzerischen Anteilen. Nachdem Hildegards Melodie abermals erklungen ist, diesmal in etwas schnellerem Tempo, folgt als Abschluss des Albums Bachs visionäre Partita in d-Moll. 
Widmann hat lange damit gewartet, dieses Schlüsselwerk der Geigenliteratur, das sie seit ihren Teenagerjahren spielt, aufzunehmen. Jetzt hält sie die Zeit reif dafür, und diese Reife hört man ihrer Darbietung an. Widmann vermeidet jede Überpointierung und Dramatisierung. Die Sarabande zum Beispiel klingt, bei aller Melancholie, erfreulich entspannt. Der seufzende Ton begräbt nicht alle Zuversicht unter sich. Die Geigerin übt sich, und das die ganze Partita über, in einer Kunst des Loslassens, die sie in der furiosen Chaconne zur Vollendung treibt.

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