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Holligers Machaut-Transkriptionen – Das Hilliard Ensemble auf dem Zenit

Heinz Holliger
@ Priska Ketterer/ECM Records
02.10.2015
Heinz Holliger gehört zu den Komponisten, die voll und ganz mit der Musik leben. Seine Leidenschaft ist so absolut und bezwingend, dass ein Leben jenseits der Musik für ihn unvorstellbar ist.

Wechselseitige Durchdringung: Heinz Holliger und die Musik

Selbst ein Denken jenseits der Musik ist für den Schweizer Avantgarde-Komponisten und gefeierten Meister-Oboisten außer Reichweite und im Übrigen auch gar nicht anzustreben. Alles ist bei ihm mit Musik durchdrungen. Wenn er über die Schweizer Politik spricht, dann freut er sich, dass in der Regierung eine ausgebildete Pianistin sitzt. Das hilft. Das ist kultureller Reichtum. Dadurch gewinnt ein Land überhaupt erst Kontur. Die Musik ist ein kulturelles Elixier.
Davon ist Heinz Holliger überzeugt. Dafür steht er ein. Dafür lebt er als Künstler, und er tut dies mit ergreifender Bescheidenheit und enormer schöpferischer Kraft. Obwohl einer der größten Komponisten der Gegenwart, ist er doch nie abgehoben, sondern stets besonnen geblieben und empfänglich für Neues. Das spiegelt sich nicht zuletzt auch in der Art und Weise, wie er andere Komponisten behandelt. Er hört ihnen zu, beschäftigt sich akribisch mit deren Stil und lässt dabei äußerste Vorsicht walten.   

Die Entdeckung: Guillaume de Machaut

So ist er auch mit Guillaume de Machaut umgegangen. Holliger fühlte sich berührt von dem französischen Komponisten des 14. Jahrhunderts, der mit seiner überaus komplexen Harmonik ein Vorreiter seiner Zeit war. Er beschäftigte sich ausgiebig mit der Kunst dieses Meisters und begann Werke von ihm zu transkribieren. Note für Note arbeitete er sich durch das Dickicht dieser faszinierend verästelten Harmonien. Mal blieb er ganz nahe am Original. Mal fügte er dem Original sachte Holligersche Akzente hinzu. Bis er schließlich ureigene Werke schuf, in denen Machauts Klangwelten nurmehr diskret durchschienen. 
Die Frucht dieser kompositorischen Arbeit, mit der er in den Jahren 2002–2009 befasst war, präsentiert der Meister jetzt in dem Album “Heinz Holliger: Machaut-Transkriptionen”. Diese Werke für vier Singstimmen und drei Bratschen sind ein tiefer Quell schöner Harmonien und poetischer Atmosphären. Mit dem Hilliard Ensemble hatte Holliger Gesangsgrößen an Bord, die dem zarten, lyrischen Ausdruck Machauts kongenial nachspürten, und die drei Bratschisten Geneviève Strosser, Jürg Dähler und Muriel Cantoreggi arbeiteten glänzend die innere Spannung in den hochriskanten Harmonien Machauts und Holligers heraus.

Musikalische Emanzipation: Mit Machaut zu Holliger

Was das Album so kurzweilig macht, das ist die Entdeckerfreude Holligers und seine schrittweise Emanzipation von Machaut. Wenn man zu Beginn Machauts originalgetreue “Ballade IV: Biaute qui toutes autre pere” hört, von den Hilliards übrigens unsagbar schön vorgetragen, dann taucht man ganz in die lyrische Welt Machauts ab. Holligers darauffolgende Verwandlung dieser Ballade in ein Stück für drei Bratschen lässt dann das Original zwar noch erkennen, führt aber auch von ihm weg in eine gespanntere Atmosphäre.  
Dabei hat Holliger gar nicht viel gemacht. Er hat bloß das Original in normalen Tönen und Flageolets erklingen lassen. Durch solch kleine Verschiebungen erzielt er enorme Effekte und führt vor, dass Machauts Musik bei aller Geschmeidigkeit doch zum Zerreißen gespannt ist. Man hat das Gefühl, dass Holliger diese moderne Tendenz in Machauts Musik nur freilegen muss. Dennoch führt die Entwicklung auf dem Album immer weiter von Machaut weg hin zu Holliger. Es ist paradox, aber je näher er Machaut kommt, desto greifbarer wird Holliger selbst.
Man könnte sagen: Der Schweizer Komponist geht auf Machaut zu, weil er bei ihm Klangwelten entdeckt, die ihm verwandt scheinen. Je näher er ihm dabei kommt, desto mehr spürt er die verborgenen Gemeinsamkeiten zwischen sich und dem französischen Komponisten des Mittelalters. Währenddessen emanzipiert er sich. Je näher er seinem Original kommt, desto stärker spürt er auch den Holliger in sich, und so wird die Treue zu seinem Transkriptionsmaterial schließlich das Medium, um zu seiner eigenen Musik durchzudringen. Das ist grandios, einfach genial.    

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