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Gianluigi Trovesi & Stefano Montanari: Harmonisch zusammenklingende Extravaganzen

Gianluigi Trovesi, Stefano Montanari
Luciano Rossetti @ ECM Records
23.02.2023
“Das Bedürfnis, meine musikalische Geschichte zu erzählen, entspringt einer langen Periode künstlerischer Aktivitäten, die sowohl mit den Zirkeln der klassischen Musik als auch jenen des Jazz verbunden sind. Damit diese Geschichte meine eigene ist, muss sie von meiner Heimat und meinen vielfältigen musikalischen Vorlieben erzählen; sie muss meine kulturelle Identität enthalten und das Vokabular verwenden, das meine musikalische Sprache bildet.” Gianluigi Trovesi
Bereits vor über zwanzig Jahren hat Umberto Eco hervorgehoben, dass “die Suche nach historischen Klangfarben und klassischen Anklängen” neben “eigenständigen Einfällen” zum besonderen Charakter von Gianluigi Trovesis Kunst beitragen. Die Klarinetten und das Saxophon des aus der Lombardei stammenden Holzbläsers haben nahezu von Anfang an eine Art polyglotte Sprache gesprochen, und auf jedem seiner ECM-Alben hat er auf unterschiedliche Weise Zutaten verschiedener Idiome kombiniert, kontrastiert und vermischt.
Auf “Stravaganze Consonanti”, einer inspirierten Zusammenarbeit mit dem bekannten Barockviolinisten und Dirigenten Stefano Montanari, verfolgt Trovesi die Linie der musikalischen Erkundungen weiter, die er 2008 auf seinem Opernalbum “Profumo di Violetta” begonnen hat. Unterstützt von einem Ensemble, dessen Musiker sich mit den altertümlichen Klängen der Instrumente aus jenen Epochen und historischen Aufführungspraktiken gut auskennen, wirft er diesmal einen neuen Blick auf die Musik der Renaissance und des Barock – auf Werke von Henry Purcell, Guillaume Dufay, Giovanni Maria Trabaci, Josquin Desprez und anderen. Darunter mischt er auch eigene Kompositionen und rührt in das berauschende Gebräu zudem noch einige zusätzliche Improvisationen mit dem Perkussionisten und Elektronikmusiker Fulvio Maras. Wie Montanari im CD-Booklet schreibt, “erfasst Trovesi die Kraft und Finesse einer Sprache, die in einem Wimpernschlag von Dufay zu Purcell übergeht und im Jazz ankommt, ohne jemals die tiefe Bedeutung eines musikalischen Gewebes aus den Augen zu verlieren, dessen Hauptmotiv universelle Kommunikation ist.”
Trovesis eigene Stücke fügen sich nahtlos in das Programm ein und wirken in ihrer Nähe zu den Meisterwerken der Frührenaissance auf nonchalante Weise sicher. Gianluigis “L’ometto disarmato” erblüht ganz natürlich aus der Kyrie von Guillaume Dufays “L’homme armé”. In der von Corrado Guarino einfühlsam arrangierten Musik werden souverän sechs Jahrhunderte überbrückt.
“For A While”, ebenfalls von Trovesi geschrieben, ist noch freier in seinem Umgang mit Fragmenten aus Henry Purcells “Music For A While”. Die Altklarinette übernimmt hier die Rolle des Sängers und erweitert auf kreative Weise melodische Phrasen, während sie sich über die Klänge von Cembalo und Streichern bewegt. Es ist ein ausgezeichnetes Beispiel für die stilistische Neuformulierung, die an den Grenzen der Genres stattfindet.
Zur Seite stehen ihm dabei alte Freunde wie Kontrabassist Bruno Tommaso, der hier Andrea Falconieris “Suave Melodia” arrangiert hat. Trovesi und Tommaso haben in zahlreichen Kontexten zusammengearbeitet, unter anderem im Italian Instabile Orchestra, mit dem Gianluigi 1995 sein ECM-Debütalbum “Skies Of Europe” eingespielt hat. Trovesis Verbindung mit dem Perkussionisten Fulvio Maras ist ebenfalls durch ECM-Aufnahmen dokumentiert, darunter “Fugace” (2003) mit Trovesis Oktett und die Trio-Aufnahme “Vaghissimo Ritratto” (2007), bei der zu Trovesi und Maras der Pianist Umberto Petrin stieß. Stefano Montanari beschreibt Maras als “einen intuitiven und explosiven Musiker”. Die Stücke, die Trovesi mit ihm auf “Stravaganze Consonanti” ausgestaltet, sind “Momente, die Kontraste schaffen, ein altes Bild mit einem Auflodern fluoreszierender Farben bereichern”.
Corrado Guarino, ein Absolvent des Konservatorium von Verona, hat bei Bruno Tommaso in Siena Komposition und Arrangement studiert sowie mit Gianluigi Trovesi bei der Verwirklichung zahlreicher Orchester-Projekte zusammengearbeitet.
Stefano Montanari gehört zu den herausragenden Barockviolinisten seiner Generation und ist auch dafür bekannt, ein einfühlsamer Dirigent sowohl moderner als auch historischer Orchester zu sein. Er studierte bei Pier Narciso Masi an der Musikakademie in Florenz und bei Carlo Chiarappa an der Swiss-Italian School of Music in Lugano mit Schwerpunkt auf historische Aufführungspraxis. Von 1995 bis 2012 war er Stimmführer des Orchesters der Accademia Bizantina in Ravenna und arbeitete dabei mit führenden Köpfen der Alten Musik zusammen. In der jüngeren Vergangenheit dirigierte er Rossinis “Il Barbiere di Siviglia” an der Wiener Staatsoper, die Repertoireaufführungen von Rameaus “Platée” an der Stuttgarter Staatsoper und Verdis “Rigoletto” am Londoner Royal Opera House in Covent Garden. Montanari unterrichtet Barockvioline an der Accademia Internazionale della Musica “Claudio Abbado” in Mailand und hat ein Buch mit dem Titel “Metodo di violino barocco” veröffentlicht.
Gianluigi Trovesi wurde 1944 in dem Dorf Nembro in der Nähe von Bergamo in Norditalien geboren. Hier waren Volks- und Tanzmusik ein fester Bestandteil des täglichen Lebens, und der junge Musiker sog sie begierig auf. Später studierte er am Konservatorium von Bergamo, wo er 1966 seinen Abschluss im Fach Klarinette machte. Ein einschneidendes Erlebnis war für ihn, als er 1964 Eric Dolphy auf dem Mailänder Festival hörte. Doch Trovesis Interessen und Einflüsse umfassten praktisch jede Art von Musik, von der italienischen Volksmusik über Monteverdi bis hin zur Jazz-Avantgarde. 1978 gewann er den ersten Preis in einem nationalen Wettbewerb für Saxophon und Klarinette und erhielt eine Anstellung als erster Altsaxophonist und Klarinettist bei der Radio-Bigband des in Mailand ansässigen Senders RAI, eine Position, die er bis 1993 innehatte.
Seinen Einstand bei ECM gab Gianluigi Trovesi 1994 auf “Skies Of Europe” mit dem Italian Instabile Orchestra, einem erstaunlich unkonventionellen Großensemble, in dem er als eigenwilligster Solist besonders herausstach. Auf “In Cerca di Cibo” (1999) bewegte er sich gemeinsam mit dem Akkordeonisten Gianni Coscia leichtfüßig zwischen Jazz und Kammermusik, Folk und italienischer Filmmusik. Das Duo meldete sich 2005 mit dem Album “Round About Weill” zurück, auf dem es Stücke von Kurt Weill und von diesem inspirierte Improvisationen präsentierte. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte das Duo 2011 auf “Frères Jacques: Round About Offenbach”. “La Misteriosa Musica della Regina Loana” war wiederum eine musikalische Hommage an die literarischen Werke von Umberto Eco. “Profumo di Violetta” (2008) bot eine für Gianluigi Trovesi charakteristische, originelle Interpretation italienischer Opernmusik, die – wie Ivan Hewitt damals im Daily Telegraph schrieb  – von “einer turboaufgeladenen Version einer traditionellen italienischen Stadtkapelle” vorgetragen wurde.

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