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Essenzen der Erinnerung – Tõnu Kaljuste mit Schlüsselwerken des großen estnischen Komponisten Veljo Tormis

Veljo Tormis
Tönu Tormis
08.09.2023
Von Veljo Tormis stammt der Ausspruch: “Nicht ich bediene mich des Volkslieds. Das Volkslied bedient sich meiner.” Der Komponist als Medium, als Empfangender, der das, was ihm musikalisch anvertraut wurde, schöpferisch verwandelt und erneuert. Mit dieser Haltung hätte Tormis in der westlichen Avantgarde vermutlich auf verlorenem Posten gestanden. In Estland, das von 1940 bis 1991 unter sowjetischer Fremdherrschaft stand, stieß er damit, noch bevor er in den 1990er Jahren im Westen Bekanntheit erlangte, auf Resonanz. In dem kleinen baltischen Land hatte sich die Volkslied-Tradition als freiheitliches Lebenselixier erhalten, und Tormis wurde zu einem ihrer wichtigsten Exponenten.
2017 verstarb der Komponist, der 1930 in der beschaulichen Landgemeinde Kuusalu im Norden Estlands zur Welt gekommen war. Seit seinem Tod war es still um ihn geworden. Jetzt präsentiert der estnische Chorleiter und Dirigent Tõnu Kaljuste Schlüsselwerke von Veljo Tormis.
Langjähriger Wegbegleiter 
Kaljuste gehörte zu den langjährigen Wegbegleitern des Komponisten. Er brachte zahlreiche Werke von Tormis zur Aufführung. Mit Alben wie “Forgotten Peoples” (1992) und “Litany To Thunder” (1999) demonstrierte er in der New Series von ECM schon früh die hypnotischen Intensitäten in der Chormusik von Veljo Tormis und trug wesentlich zu seiner wachsenden internationalen Bekanntheit bei. Kaljustes neueste Aufnahme trägt den Titel “Reminiscentiae”. Das mit zahlreichen Ersteinspielungen bestückte Album versammelt vokales Repertoire und Orchestermusik von Veljo Tormis. Der leitende Gedanke des Programms sind, der Album-Titel bringt es zum Ausdruck, Erinnerungen, darunter Kindheitserinnerungen von Veljo Tormis, die sich in der Musik spiegeln, aber auch Erinnerungen von Kaljuste an die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Komponisten. 
Fenster in die Moderne 
Das Album wurde im Oktober und November 2020 in der Methodistenkirche in Tallinn aufgenommen. Neben dem Estnischen Philharmonischen Kammerchor und dem Tallinner Kammerorchester waren eine Reihe von Solistinnen und Solisten mit von der Partie, darunter die junge Mezzosopranistin Iris Oja, die den 1979 entstandenen “Melancholischen Liedern” (“Kurvameelsed laulud”) mit ihrem ausdrucksstarken Gesang eine berührende Intensität verleiht.
Einen Neuigkeitswert besitzt der orchestrale Ansatz, den Kaljuste gewählt hat. Tormis war bislang vornehmlich als Komponist von vokaler Musik bekannt. Auf dem neuen Album tritt er auch als Schöpfer eines farbenreichen Orchestersatzes in Erscheinung. Das gilt insbesondere für die Orchesterzyklen aus dem Werk “Reminiscentiae”, die mit breitflächigen Klanglandschaften und lebhaften Szenen überzeugen. 
Zu den Höhepunkten des Albums zählt “The Tower Bell In My Village” (“Tornikell minu külas”) für gemischten Chor, zwei Soprane, Sprecher und Glocke. Kaljuste gab das Werk 1978 bei Tormis in Auftrag. Er drückte ihm einen Text von Pessoa in die Hand und bat ihn um eine Komposition. Das Werk ist von erstaunlicher Integrationskraft. Mit seinen Wechseln zwischen tröstlich-transzendenten Momenten und dunkler Poesie, die Veiko Tubin eindringlich deklamiert, demonstriert diese Arbeit, dass die Musik von Tormis nicht nur in ungeahnte Tiefen der Tradition herabreicht, sondern auch Fenster in die Moderne öffnet.

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