“Schönheit jeglicher Art bewegt in ihrer höchsten Entfaltung die empfindsame Seele unvermeidlich zu Tränen. Melancholie ist daher die rechtmäßigste aller poetischen Tonarten”, schrieb der Dichter Edgar Allen Poe. Musikalisch hat diese Idee wohl kaum ein anderer Komponist so eindringlich verwirklicht, wie John Dowland (1563–1626) in seinen “Lachrimae”. “Semper Dowland, semper dolens” (immer Dowland, immer in Schmerzen) lautete der Leitspruch des komponierenden Lautenspielers. Darin klingt die Faszination für Themen wie Sünde, Verdammnis, Finsternis und Tod an, von der die englischen Künste im elisabethanischen Zeitalter tief durchdrungen waren. Shakespeares Hamlet verkörperte den literarischen Prototypen des schwermütigen Helden. John Dowland lieferte den Soundtrack für den Kult der Melancholie.
“Fließt, meine Tränen, strömt aus euren Quellen”
Dowlands “Lachrimae oder Sieben Tränen, dargestellt in sieben tief emfundenen Pavanen”, kurz “Lachrimae”, zählen zu den herausragenden Frühwerken der Ensemblemusik. “Ihre hypnotische Schönheit allein garantiert ihnen einen festen Platz in unserem musikalischen Leben”, schreibt der Geiger John Holloway im Begleittext zu seinem neuen Album für ECM New Series. Das Lautenlied “Flow My Teares” aus Dowlands “Second Book of Ayres” (1600) bildet die Basis für diesen instrumentalen Werkzyklus. Eine Tonfigur von vier absteigenden Quarten untermalt in dem Stück die Textzeilen “Flow my teares” und “fall from your springs”.
Wegweisende Komposition
Was später als Lamentobass zu einer Klischeewendung barocker Opern- und Kirchenmusik wurde, scheint absichtsvoll bereits von Dowland komponiert worden zu sein. Dafür sind die “Lachrimae” ein eindrucksvoller Beleg. Dowland setzte sich darin schöpferisch mit dem Thema Tränen auseinander, indem er die kontrapunktischen und harmonischen Möglichkeiten der fallenden Viertonfolge in sieben Variationen erkundete. “Wie gut er zu verstehen scheint, dass die Kraft der Musik uns berühren und Gefühle ausdrücken kann, die wir auf andere Weise nicht zu artikulieren vermögen”, meint John Holloway.
Qual und Instrumentenwahl
Er und seine Mitstreiter spielen Dowlands “Lachrimae” in einer ungewöhnlichen Besetzung mit vier Bratschen und einer Bassgeige. Nur die Schlusspointe der scharfsinnigen und humorvollen Begründung Holloways soll an dieser Stelle vom Englischen ins Deutsche übertragen werden: “Wie man von Dowland gesagt hat, sind seine größten Werke von einem tief empfunden tragischen Lebenskonzept inspiriert”, heißt es im Begleittext. “Vor diesem Hintergrund ergab sich die Wahl der Instrumente (statt die Musik in eine höhere Tonart zu transponieren) von selbst.”
“Wohltuende Tränen”
“Zwar verheißt der Titel Tränen, doch die Tränen, die die Musik weint, sind gewiss wohltuende Tränen”, schrieb Dowland in seiner Widmung des Werks an Königin Anne von Dänemark. Angesichts seiner allezeit gramvollen Klangwelt erschließt sich diese Logik wohl nur hoffnungslosen Melancholikern. Vielleicht hat dieser Gedanke John Holloway, Monika Baer, Renate Steinmann, Susanna Hefti und Martin Zeller dazu bewogen, Dowlands Zyklus mit Werken anderer wichtiger Komponisten dieser Ära aufzulockern: Henry Purcell, William Lawes, John Jenkins, Thomas Morley und Matthew Locke. So entstand ein Album voll gegensätzlicher Färbung und unterschiedlicher Charaktere, das einen lebendigen und durchaus nicht monochromatischen Einblick in die Blüte der Ensemblemusik im England des 17. Jahrhunderts gibt.