„Contrechant“, das Debüt von Reto Bieri auf
ECM New Series, ist zugleich die erste Veröffentlichung des Labels, auf der ausschließlich Musik für Solo-Klarinette zu hören ist. Offenbar war der Chef des Münchner Labels
Manfred Eicher beeindruckt vom außergewöhnlichen Talent und von dem eigenwilligen modernen Repertoire des Schweizer Instrumentalisten, der im Gespräch mit Nachdruck bekundet, sich nicht als klassischer Musiker zu verstehen; jedenfalls nicht, wenn man dabei an die berufsmäßige Verwaltung eines angestaubten musikalischen Erbes denkt. Bieris besonderes Interesse gilt der Neuen Musik. Und es ist ja auch sein Instrument, welches gerade von den Komponisten der jüngeren Moderne mit einer Fülle von Solo-Werken bedacht worden ist. Nicht zuletzt, weil die in ihrem höchst differenzierbaren Ausdrucksspektrum der menschlichen Stimme so nahe Klarinette befreit vom Ballast kompositorischer Konventionen wie kaum ein anderes Instrument geeignet ist, komplexen seelischen Vorgängen Ausdruck zu verleihen.
Angesichts der Unmittelbarkeit dieser Musik versagen Kategorisierungen
Reto Bieris Debüt konzentriert sich ganz auf diese zeitgenössischen Kompositionen. Da ist Salvatore Sciarrinos berührendes Stück „Let me die before I wake“, die musikalische Studie eines im Koma mit dem Leben ringenden Körpers. Die fast gänzlich aus getrillerten Mehrklängen bestehende Komposition, die von abrupten Einwürfen von Anblasgeräuschen und erschaudernden Zungenschlägen durchsetzt ist, bewegt sich permanent auf der Schwelle von Klang, Verklingen und Stille. Sie gemahnt an die Nervenimpulse im Gehirn eines Körpers, der seine letzten, keuchenden Atemzüge tut. Für das Verständnis dieser unmittelbaren Musik sind Kategorien wie tonal, atonal oder seriell ebenso irrelevant, wie auch in Lucio Berios Komposition mit dem lakonischen, auf die Kunstliedtraditon verweisenden Titel. Zum Tragen kommen hier vor allem die latenten linguistischen Impulse des Klarinettenklangs. Es scheint, mithilfe des Atems, der das Instrument zum Klingen bringt, könnten auch die Worte einer ungehörten Sprache gebildet werden.
Faszinierender Einblick in die zeitgenössische Klarinettenmusik
„Contrechant“ heißt das Werk, dem sich der Albumtitel verdankt. Es stammt aus der Feder von Bieris Schweizer Landsmann
Heinz Holliger, dessen Arbeiten im Jahr 2011 ganz besonders
im Fokus von ECM New Series stehen. In dem technisch überaus anspruchsvollen Werk, dessen kompositorisches Material aus einem Anagramm über den Namen Baudelaire besteht, das der Dichter Oskar Pastior verfasst hat, präsentiert sich Reto Bieri als ein mit allen Spieltechniken der zeitgenössischen Musik bestens vertrauter und erfahrener Klarinettist. Sein Spiel ist in den langen Hallklang der Propstei des Benediktinerklosters St. Gerold getaucht, dem eine Reihe bahnbrechender ECM-Aufnahmen ihren besonderen Klangcharakter verdankt. Auch „Contrechant“, dem faszinierenden Einblick, den uns Reto Bieri in die zeitgenössische Klarinettenmusik gewährt, ist eine andauernde Nachwirkung zu wünschen.