ECM Sounds | News | Die Poesie der Revolte – Christian Reiner spricht Texte von Pasolini

Die Poesie der Revolte – Christian Reiner spricht Texte von Pasolini

Christian Reiner
Sepp Dreissinger / ECM Records
17.11.2022
Pier Paolo Pasolini war eine Ikone der undogmatischen Linken. Nie nahm der große italienische Intellektuelle, der 1975 in Ostia aus bis heute nicht vollständig geklärten Gründen ermordet wurde, ein Blatt vor den Mund. Als Homosexueller, der von seinen politischen Feinden geoutet wurde, als überzeugter Kommunist und zweifelnder Katholik ergriff er auf vielen Gebieten des politischen Lebens Partei. Eine weltanschauliche Beheimatung blieb ihm indes verwehrt. Die Kommunistische Partei lehnte seine Homosexualität ab. Die Kirche überzog ihn mit Prozessen. Pasolini stand immer zwischen den Stühlen. 
Doch was für sein Leben eine Bürde war, wirkte sich auf seine Kunst stimulierend aus. Seine Filme, Essays und Gedichte waren von einer inneren Gespanntheit, einer Ehrlichkeit des Ausdrucks und einer moralischen Notwendigkeit, dass ihr Funke bis heute überspringt. Doch wie einer so hoch aufgerichteten Gestalt, die in ihrem Freiheitsdrang nichts und niemanden verschonte, gerecht werden?
Utopie des Landlebens
Das Münchener Label ECM New Series nimmt den Weg über das schriftstellerische Erbe, mit einer Auswahl poetischer, epistolarischer und gesellschaftskritischer Texte Pasolinis, denen der Sprechkünstler Christian Reiner atmosphärisch nachspürt. Reiner ist in der New Series kein Unbekannter. Der Rezitator ist bereits mit feinfühligen Aufnahmen existenziell tiefgründiger Hölderlin- und Brodsky-Texte hervorgetreten. Pasolini nähert er sich mit einer Fülle von deklamatorischen Mitteln. 
Das Gedicht “Land der Arbeit” (1959) spricht er langsam, mit vielen Pausen, die Raum lassen, sich in Pasolinis Denkwelt, die stark von der schroffen Schönheit des Landlebens geprägt war, einzufühlen. Pasolinis liebte das bäuerliche Subproletariat. Er erkannte in ihm anarchische und sinnliche Qualitäten. Dagegen verachtete er die Konsumwelt der Kleinbürger in den Städten, die er für die schlimmste Krise der Menschheit hielt. 
Gesellschaftskritik und Poesie
Von dieser Gesellschaftskritik zeugt ein Textfragment, das Reiner der Pasolini-Biografie von Nico Naldini entnimmt, die 1991 in einer deutschen Übersetzung von Maja Pflug bei Klaus Wagenbach erschien. Dort beschwört der Schriftsteller das Ende der Geschichte durch die “industrielle Entfremdung”, wenn „die klassische Welt verbraucht sein wird, wenn alle Bauern und Handwerker tot sein werden“. Reiner liest diese Zeilen wohltuend sachlich. Dagegen bringt er in “Bitte an meine Mutter” (1962) ergreifend zart die verletzliche Seite des Dichters zum Ausdruck. Zu den Höhepunkten der Aufnahme zählt “Große Vögel, kleine Vögel”. Hier imitiert Reiner, inspiriert von Pasolinis Film “Uccellacci e uccellini” (1966), Vogelstimmen. Das gelingt so virtuos, dass die kreatürliche Nähe von Mensch und Tier schockierend nahe rückt. 
Das Album endet mit einem bemerkenswerten Gedicht von Wolf Wondratschek, der im Booklet mit einer berührenden Hommage an Pasolini vertreten ist. Das Gedicht, das in melancholischer Manier Impressionen aus Syrakus schildert, wirkt wie ein später poetischer Nachhall des geschichtlichen Untergangsszenarios Pasolinis. Das stimmt nachdenklich und regt zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Pasolini an.
 

Mehr Musik von ECM Sounds