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Die Entdeckung der ewigen Musik – Zum 85. Geburtstag des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov

Valentin Silvestrov
29.09.2022
Valentin Silvestrov blickt auf eine lange und bewegte Laufbahn zurück, in der er unterschiedliche Stile ausprobierte. Als junger Komponist arbeitete er in den 1960er Jahren mit der Zwölftontechnik, die er sich autodidaktisch angeeignet hatte und in der er sich so frei wie möglich zu bewegen suchte. Unter den Musikerfreunden der Kiewer Avantgarde galt er schon damals als besonders eigenständig. 
Unter dem Druck der sowjetischen Kulturpolitik, die von Künstlern eine strenge Orientierung an der Doktrin des „Sozialistischen Realismus“ forderte, stießen seine frühen Arbeiten jedoch auf Ablehnung. Mit seiner ersten Sinfonie, die er 1963 komponiert hatte und im Staatsexamen präsentierte, fiel er am Kiewer Konservatorium durch. Dem Komponisten, der heute weltberühmt ist, wurde das Diplom verweigert. 
Herausbildung des Personalstils
In den 1970er Jahren wendet er sich von der Zwölftontechnik ab und beginnt eine meditative, in sich ruhende Klangpoesie zu entwickeln, die zu seinem Markenzeichen werden wird. Sein Stil wird in der Folge oft als „neo-romantisch“ gekennzeichnet. Der Grund hierfür ist neben der Suche nach Klangschönheit das starke Interesse an Melodik, das in den Siebzigern bei ihm aufkommt und ihn sehnsuchtsvolle, melancholische Stimmungen schaffen lässt, die in ihrer poetischen Essenz an Musik aus der romantischen Epoche erinnern. 
Doch so sinnvoll Rubriken wie „Neue Einfachheit“ oder „Neo-Romantik“ als erste Orientierung sein mögen, so hinderlich sind sie, wenn man die Entwicklung und den besonderen Geschmack von Silvestrovs Klangpoesie erfassen will. Wie man in seinen Werken des Übergangs, etwa dem einschneidenden Klaviertrio „Drama“ von 1970/71, erlebt, steigt sein quasi-romantischer, melodischer Ausdruck bisweilen auch aus sphärischen, geräuschhaften Kulissen auf.
Für seine auf das Publikum eigenwillig wirkende Klangkunst erhebt Silvestrov selbst keinen Anspruch auf Originalität. Ein Komponist schöpft seiner Überzeugung nach nicht aus dem Nichts. Die Musik ist immer schon da. Sie muss von dem Komponisten „nur“ entdeckt werden. Mit dieser Haltung hat Silvestrov eine Musik geschaffen, die, ähnlich derjenigen Arvo Pärts, gerade kraft ihrer spirituellen Demut eine eigene Note entfaltet.
Jahrzehnte bei ECM und Berliner Exil
Silvestrov hat mit seinen Werken die Geschichte des Plattenlabels ECM New Series seit Jahrzehnten maßgeblich mitgeprägt. Als Krönung der langjährigen Zusammenarbeit erscheint am 30. September 2022, dem 85. Geburtstag des Komponisten, im Haus des Münchener Produzenten Manfred Eicher eine Aufnahme seines vierteiligen Chor-Zyklus „Maidan 2014“, ein von Chorälen und Hymnen geprägtes Werk, das an die prowestlichen Demonstrationswellen in Kiew erinnert und durch den Ukraine-Krieg eine traurige Aktualität erlangt hat. 
Der Komponist befindet sich heute in einer zwiespältigen Lage. Sein Werk erfährt viel Anerkennung. In diesem Jahr erhielt er bereits den Schostakowitsch-Preis der „Internationalen Schostakowitsch Tage“ in Gohrisch. Am 9. Oktober 2022 wird er mit einem „Opus Klassik 2022“ für sein Lebenswerk geehrt. Den Schmerz über den Krieg in der Ukraine, der ihn gemeinsam mit seiner Tochter und Enkelin im Frühjahr aus seiner Geburtsstadt Kiew in die Flucht nach Berlin trieb, können solche Ehrungen aber nicht aufwiegen.
 

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