ECM Sounds | News | Der georgische Komponist Giya Kancheli ist im Alter von 84 Jahren in Tiflis gestorben

Der georgische Komponist Giya Kancheli ist im Alter von 84 Jahren in Tiflis gestorben

Giya Kancheli
10.10.2019
Er träumte davon, nach dem Vorbild von Duke Ellington und Stan Kenton für Big Band zu komponieren. Eine Aufführung von Strawinskys Le Sacre du printemps jedoch stellte seine Welt auf den Kopf, wie er selbst einmal sagte, ebenso die Begegnung mit der Musik von Bartók und Webern. “Wenn alles ganz logisch abgelaufen wäre”, erzählte er, “wäre meine Werteskala eine andere gewesen, und ich hätte dementsprechend andere Musik geschrieben.” Erst spät entdeckte Kancheli die Möglichkeiten der Gegenwartsmusik, die man in der Sowjetunion der 1950er-Jahre kaum zu hören bekam, und suchte Orientierung in den Werken von Schostakowitsch: “Seine Symphonien waren in meiner isolierten Welt fast meine einzigen Vorbilder für zeitgenössische Musik.” Nach und nach entstanden dauerhafte Freundschaften mit anderen Komponisten seiner Generation, mit Künstlern, zu denen er eine geistige Verwandtschaft empfand, darunter Alfred Schnittke, Arvo Pärt und Walentyn Sylwestrow. Kanchelis Musik ist gleichwohl ein eigener Kosmos, oft gekennzeichnet durch extreme dynamische Kontraste, die vom leisesten Flüstern bis zu donnerndem Getöse reichen. In jeder Lautstärke aber haben die Klänge etwas Sehnsüchtiges und Melancholisches.
1991 ging Kancheli in den Westen, zunächst nach Berlin, später nach Antwerpen, seinem Wesen nach aber blieb er ein Georgier. Kanchelis bewegender Liederzyklus Exil nach Gedichten von Paul Celan und Hans Sahl, 1995 unter der Leitung von Vladimir Jurowski bei ECM New Series veröffentlicht, wurde von einigen Rezipienten als autobiografisches Werk interpretiert. Kancheli widersprach: “Ich wurde nie ausgewiesen. Wenn ich zur Sowjetzeit ausgereist wäre, als man nicht mehr zurückkonnte, hätte die Sache ganz anders ausgesehen.” Oft reiste er in sein Heimatland zurück, wo er eine angesehene Persönlichkeit war, berühmt für seine Musik für Film und Theater und für seine Orchesterwerke. 
Giya Kanchelis erste Aufnahme für ECM New Series war 1992 Vom Winde beweint, aufgeführt von seinen langjährigen musikalischen Partnern, der Bratschistin Kim Kashkashian und dem Dirigenten Dennis Russell Davies, der auch Trauerfarbenes Land, Caris Mere (mit dem Klarinettisten Eduard Brunner), Abii ne viderem und Diplipito leitete. Mstislaw Rostropowitsch, der zusammen mit dem Dirigenten Jansug Kakhidze auf dem Album Simi, Magnum Ignotum zu hören ist, sagte. “Ich liebe diesen Komponisten wegen seiner Eigenständigkeit. Olivier Messiaen zeigte mir die Grenzenlosigkeit und Endlosigkeit der Zeit, und das gilt auch für Kancheli.” Gidon Kremer gehört zu den beständigsten Interpreten von Giya Kanchelis Musik, die er erstmals für das Album Lament mit dem Symphonieorchester Tiflis im Heimatland des Komponisten aufnahm. In Chiaroscuro, Kanchelis jüngster Veröffentlichung bei ECM, spielte Kremer zusammen mit Patricia Kopatchinskaja. Zu den anderen Musikern und Freunden, die sich künstlerisch in den Dienst von Giya Kanchelis vielfältigem musikalischen Œuvre stellten, zählen Thomas Demenga, Oleg Maisenberg, das Hilliard Ensemble, Dino Saluzzi und Jan Garbarek.
Kanchelis Musik wird noch in vielen Jahren zu hören sein.

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