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Das lebendige Zeugnis der Stimmen und Klänge – Heiner Goebbels mit „A House of Call“

Heiner Goebbels
18.08.2022
Heiner Goebbels war nie ein Komponist, der nur um seine persönliche Ausdruckspotenz kreist. Was sich in der Welt politisch und geschichtlich ereignet, fließt seit jeher in seine Musik mit ein: als Material, als notwendiger Inhalt, aber auch als Gegenstand menschlicher Beunruhigung oder Begeisterung, Freude oder Trauer. Der Komponist greift die Stimmen und Klänge der Gesellschaft auf und setzt sich mit seiner Musik dazu ins Verhältnis. Obgleich Goebbels als Theaterregisseur, Hörstückautor und multiinstrumental begabter Musiker naturgemäß ein breites Feld beackert und sich dabei mit frappierender Selbstverständlichkeit zwischen so unterschiedlichen Genres wie Artrock, Weltmusik, Free Jazz und politischem Lied bewegt, deutet sich sein Personalstil bereits früh an. Schon sein mit Ende 20 komponiertes Werk “Berlin Q-Damm 12.4.81” enthält jenen Mix aus Stimmen, Geräuschen, Rhythmen und Klängen, der sich zum typischen Kennzeichen seines musikalischen Schaffens entwickeln wird. 

Vorläufige Summe von Goebbels’ Schaffen

Die schrille Klangcollage, die 1981 kurz nach Goebbels’ Zeit beim “Sogenannten Linksradikalen Blasorchester” entsteht und Tonaufnahmen von einer Berliner Hausbesetzerdemo aufgreift, trägt noch Züge einer politisch eingreifenden Kunst. Später verfeinert und poetisiert Goebbels seinen Stil. Ein Meilenstein auf diesem Weg sind die Hörstücke, die er mit Texten von Heiner Müller produziert. In diesen Arbeiten gestaltet der maßgeblich von Hanns Eisler geprägte Künstler eine Reibung von Stimme und Klang, die zu seinem ästhetischen Markenzeichen werden wird. 
“A House of Call. My Imaginary Notebook”, das unter Fachleuten der Neuen Musik-Szene bereits als Opus magnum des Komponisten gehandelt wird, ist der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung. Das Werk wurde am 30. August 2021 in der Berliner Philharmonie uraufgeführt. Das Label ECM New Series veröffentlicht jetzt eine Aufzeichnung aus dem Münchener Prinzregententheater vom September 2021. Zu hören ist das Ensemble Modern unter der Leitung von Vimbayi Kaziboni. Das Album erscheint aus Anlass des 70. Geburtstags von Heiner Goebbels am 17. August 2022. 

“Schläft ein Lied in allen Dingen”

Das imaginäre Notizbuch des Komponisten versammelt ein breites Spektrum von Stimmen und sprachlichen Zeugnissen, darunter Worte von Heiner Müller, Fragmente aus einem der letzten Texte von Samuel Beckett und Ansagen von Hans Lichtenecker, der in Afrika rassistische Forschungen trieb und mit den Nachfahren der von deutschen Soldaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ermordeten Nama und Herero Aufnahmen machte. Das Orchester reagiert mal zart bergend, mal schneidend scharf, mal nervös gespannt, mal melancholisch auf die atemberaubenden Zeugnisse. 
Im abschließenden vierten Teil seines Werks lässt Goebbels seine Mutter Eichendorffs Gedicht “Wünschelrute” mit dem bekannten Vers “Schläft ein Lied in allen Dingen” rezitieren und entwickelt daraus nach einer anfänglich diskreten Klavierbegleitung eine komplex verzweigte, unruhige Klangpoesie. Eichendorffs Worte wirken unterdessen wie das Motto seiner Kompositionskunst. Neben seiner erstaunlichen Fähigkeit, die den menschlichen Stimmen innewohnende Musik zu dechiffrieren, besticht in “A House of Call” der Gestus radikaler Offenheit, den Goebbels kultiviert.

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