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Bachs Modernität – Thomas Demenga interpretiert sämtliche Cellosuiten

Thomas Demenga
© Priska Ketterer / ECM Sounds
26.10.2017
Thomas Demenga hat sich Zeit seines Lebens mit Johann Sebastian Bach befasst. Der deutsche Komponist ist für ihn das Non plus ultra der Musik. Für den Schweizer Cellisten gibt es keinen Tonschöpfer, der die Höhe Bachs erreicht hat. Der Eisenacher Komponist bleibt singulär, ein Phänomen für sich.
“Seine Musik ist”, so Demenga, “losgelöst von persönlichen Gefühlen und Dramen oder anderen Ereignissen, die viele Komponisten in ihrer Musik zum Ausdruck bringen. Deswegen ist seine Musik so rein und hat, wenn wir den Ausdruck gebrauchen wollen, etwas Göttliches.”

Bach als Passion: Thomas Demenga

Dass Bach über der Zeit schwebt, ist schon oft festgestellt worden. Andererseits ist immer wieder behauptet worden, der barocke Komponist habe moderne Stimmungen und Formgebungen vorweggenommen. Der Philosoph Theodor W. Adorno sah in Bach einen Vorreiter. Er wandte sich gegen das Bild des traditionalistischen Kirchenmusikers, das im Deutschland der 1950er Jahre noch vorherrschte.
Spätestens Glenn Gould hat mit seiner furiosen Interpretation der Goldberg-Variationen und des Wohltemperierten Klaviers die visionäre Modernität Bachs unter Beweis gestellt. Aber auch Thomas Demenga hat sich auf diesem Gebiet profiliert. Er führte mit den Cellosuiten vor, wie weit Bach in die Zukunft vorausweist. In den Jahren 1986 und 2002 nahm er einzelne Cellosuiten für das Münchener Label ECM auf.
Dabei stellte er sie in einer Serie von Publikationen, die eine erstaunliche innere Geschlossenheit aufwiesen, modernen Kompositionen gegenüber. Werke von Sándor Veress und Bernd Alois Zimmermann, von Isang Yun und Toshio Hosokawa erklangen neben einzelnen Bach-Suiten, und Demenga überließ es dem Publikum, die abstrakt nicht zu fassenden, atmosphärisch jedoch spürbaren Schnittmengen zu erkennen.

Gegensätze versöhnen: Sämtliche Cellosuiten

Das Konzept ging auf. Die Hörerschaft verstand, worauf Thomas Demenga hinauswollte. Einziger Wermutstropfen: Demengas soghafte Darbietungen einzelner Cellosuiten lagen nur verstreut vor. Was fehlte, war ein Album, auf dem alle Suiten in der Interpretation des Schweizer Solisten versammelt sind. Der Wunsch dauerte im Publikum fort, zumal bei eingefleischten Bach-Liebhabern. Thomas Demenga ließ sich indes Zeit. Er wartete den richtigen Augenblick ab, bis das Vorhaben gereift war.
Jetzt ist es soweit. Thomas Demenga führt bei ECM New Series erstmals sämtliche Cellosuiten von Johann Sebastian Bach an einem Ort zusammen. Dabei hält das soeben erschienene Doppel-Album viele Überraschungen bereit. So scheint Thomas Demenga der Spielfluss an manchen Stellen wichtiger geworden zu sein als die peinlich genaue Herausstreichung jedes einzelnen Tons. Zwar ist sein Spiel nach wie vor von äußerster Präzision bestimmt, aber es ist zugleich auch leichter geworden, was dem tänzerischen Aspekt der Suiten zugutekommt.
Hört man alle sechs Suiten in einem durch, so klingt ein geschmeidig gleitender Ton im Ohr nach, der immer wieder von einer dunklen Poesie durchkreuzt wird. Die von Demenga diskret hervorgehobenen tiefen Töne, etwa zu Beginn der ersten Suite in G-Dur, rufen das einsam schweifende Moment dieser monologischen Klangkunst berührend in Erinnerung. Mitreißend ist aber auch der kühle Stil, mit dem Demenga etwa die Gigue aus der Suite in C-Dur bewältigt. Demengas Bach-Spiel ist von enormer Variabilität und vermag Gegensätze zu versöhnen.    

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