Mir scheint, dass wir heutzutage bei der Beurteilung von Musik gerade aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer noch einem fatalen Irrtum unterliegen: Unsere Vorstellung von Interpretation und Klang ist geprägt von den technischen Errungenschaften und der Ästhetik des 20. Jahrhunderts, eingemeißelt natürlich von den in ihrer eigenen Weise exemplarischen Aufnahmen der großen Interpreten der unmittelbaren Vergangenheit.
Text: Cecilia Bartoli | Fotos: Uli Weber
Unsere Ohren erwarten einen Chopin oder Liszt, der tönt wie Rachmaninov — gespielt auf einem hochmodernen, auf 440 Hz gestimmten Steinway. Cherubini und Donizetti, auf jeden Fall Meyerbeer, Verdi und natürlich Wagner kennen wir einzig in einem falsch verstandenen, draufgängerischen Verismo-Stil, welcher selbst Mascagnis Cavalleria rusticana oder Puccinis Turandot schlecht ansteht, d.h. mit einem Übermaß an Lautstärke, an herausgestemmten, geschrieenen oder abgebrochenen Tönen, Schluchzern und Schleifern, großem Vibrato, ungenauer Intonation und veränderten Noten.
Im Zuge des 20. Jahrhunderts hat sich das Publikum zudem an größere Veranstaltungsorte, wachsende Orchester und an infolgedessen immer mehr auf Lautstärke und Brillanz getrimmte Instrumente gewöhnt. Dementsprechend wird der Klang höher, metallischer und schärfer. Der menschliche Stimmapparat allerdings kann mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten. Um den neuen Erwartungen, der mithin übermächtigen Kraft des modernen Orchesters und der immer höheren Intonierung gerecht zu werden, wird die Stimme heute zu oft einem ungesund großen Druck ausgesetzt, mit dem Resultat, dass sie in ihrer Flexibilität und ihrem Farbenreichtum beeinträchtigt wird. Immer öfter werden daher Stimmen beschädigt und eine Karriere letztendlich empfindlich verkürzt.
Der Sucht nach höherem Pegel und strahlendem Klang werden also die Farben und Nuancen in den unteren Bereichen geopfert, genau diejenige Differenziertheit also, welche Musik überhaupt zum Sprechen bringt. Die Durchsichtigkeit und Schattierungen des Klangs, die Balance zwischen den Registern eines Klaviers aus der Chopinzeit unterscheiden sich ja deutlich von denen eines modernen Flügels. Genauso verändert sich die Atmosphäre, wenn das Vorspiel zu Normas “Casta Diva” von einer frühromantischen Holztraversflöte gespielt und die Arie wie vorgeschrieben als Gebet und im geforderten Pianissimo gesungen wird.
Dies ist sicher der Grund, weshalb dem Belcanto in unserer Zeit oft Einförmigkeit und Langeweile vorgeworfen wird, während er doch die Zeitgenossen seelisch zutiefst aufwühlen konnte. Auch Chopin, Paganini und Liszt schrieben Belcanto — und imitierten damit den Gesang der zutiefst verehrten Sänger ihrer Zeit. Vielleicht sollten wir uns heute mehr von den großen Interpreten dieser Komponisten und ihrem Spiel auf dem Klavier oder der Geige inspirieren lassen, um quasi den Belcantostil neu zu erlernen.
Auf jeden Fall sollten wir uns wieder einen Zugang in chronologisch richtiger Weise erarbeiten, also nicht aus dem Blickwinkel des vergleichsweise kruden Naturalismus der Wende zum 20. Jahrhundert, sondern von den Wurzeln her. Denn nur so können wir den wahren Zauber, die Farbigkeit und Gefühle dieser Musik wieder nachempfinden. Klangvorstellung und Gesangstechnik müssen am Barock, an der Klassik und am Rossinigesang geschult sein, und dazu gehören bekanntermaßen eine geschmeidige, nuancierte Stimmführung, eine höchst differenzierte Ausdrucksskala, ein genaues Lesen des Notentextes, aber auch eine Freiheit im Ausdruck und eine phantasievolle, persönliche Gestaltung durch den jeweiligen Interpreten.
Im Rahmen meiner Recherchen zum 200. Geburtstag der Mezzosopranistin Maria Malibran (1808–1836) untersuchte ich das Repertoire dieser legendären Sängerin. Erstaunlicherweise befanden sich darunter eine ganze Anzahl Rollen, welche heutzutage, ohne groß nachzudenken, dem lyrischen oder sogar leichten Sopranfach zugeordnet werden. Insbesondere die beiden Opern von Bellini, La sonnambula und Norma schienen dabei gänzlich aus dem Rahmen zu fallen.
Für die Zeitgenossen hingegen lag darin offenbar nichts Außergewöhnliches — Bellini selbst äußerte über die in London gehörte Sonnambula der Malibran: “… ich war der erste, der aus vollem Halse schrie: ‘Viva! Viva! Brava! brava!’ und in die Hände klatschte, bis ich nicht mehr konnte” (Vincenzo Bellini an Francesco Florimo, London, 1833.)
Von da an war Bellini der Malibran zugetan, und nur beider früher Tod verhinderte wohl, dass der sizilianische Komponist der vergötterten Freundin eine neue Oper auf den Leib schrieb. Diejenige Künstlerin aber, für deren Stimme er unter anderem die beiden erwähnten Werke komponiert hatte und die zu den berühmtesten Sängerinnen jener Zeit gehörte, war nach heutigen Vorstellungen ebenfalls eine Mezzosopranistin: Giuditta Pasta (1797–1865).
Die Malibran und die Pasta waren in den 1830er Jahren die begehrtesten Interpretinnen der Norma. Sogar im normalerweise für oder gegen bestimmte Sänger stark polemisierenden Italien fanden Kritiker wie Publikum für beide anerkennende Worte: “Madame Pasta scheint uns auf der Bühne das perfekteste Beispiel des klassischen Genres, während Madame Malibran uns das des romantischen Genres zu sein scheint”, las man in Mailand, während die Neapolitaner kalauerten: “[Die Malibran] ist Norma und kann die Norm für jede andere Norma sein“.
Zwar waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Stimmfächer bei weitem nicht so strikt definiert wie heute. Man teilte nach dem Charakter der Rollen ein (ernst, komisch usw.) oder nach dem Status der Sängerin am Theater (prima donna assoluta, prima donna di prima sfera, seconda donna usw.). Der Begriff “Mezzosopran” entstand erst später, und bezeichnete zunächst wohl eher eine Stimmqualität und -farbe. Wenn man aber die Noten studiert, stellt man sowohl in der Sonnambula wie in der Norma fest, dass an zahlreichen Stellen die Tessitur der Titelpartie für einen Mezzosopran bequemer liegt als für einen Sopran.
Daher übernahmen seit Mitte des 20. Jahrhunderts immer häufiger dramatischere Soprane — mit eben einem dunklen Timbre und einer guten Mittellage — diese Rollen. Aber solchen Stimmen bereiteten die Schattierungen im unteren dynamischen Bereich Schwierigkeiten, und die schnellen Koloraturteile wurden entsprechend gekürzt. Koloratursoprane hingegen bewältigten solche Stellen problemlos, mussten sich aber bei zahlreichen unangenehm tiefen Passagen behelfen, indem sie zum Beispiel in Duetten die Gesangslinien mit dem Partner abtauschten und zahlreiche hohe Töne einfügten.
Dies schmälert jedoch keineswegs die Leistung jener Sängerinnen, denen wir die breite Wiederentdeckung des Belcanto-Repertoires und wichtige Erstaufnahmen verdanken, allen voran Maria Callas — die sich übrigens des Erbes der Pasta und der Malibran sehr wohl bewusst war. Allerdings galten auch für sie der vorherrschende, eben vom Verismo beeinflusste Stilgeschmack und die Regeln der damaligen Theaterpraxis: Sang der Sopran(star) die Titelpartie, so musste notwendigerweise ein Mezzo oder sogar Alt die Adalgisa übernehmen. Die durch diesen Lagenwechsel und die Schwere der Stimmen entstandenen mörderischen Schwierigkeiten bezüglich Tonhöhe und Virtuosität entschärfte man durch einschneidende Veränderungen am Notentext. Mit der Adaption an die Vokalität der Interpretinnen entfernte man sich somit immer weiter weg von dem, was der Komponist in Wirklichkeit geschrieben hatte.
Die philologische Auseinandersetzung mit der Trias des Belcanto Rossini–Bellini– Donizetti begann erst einige Jahrzehnte später mit der Arbeit von Claudio Abbado an einigen Komödien Rossinis, und hat sich, wenn man es genau nimmt, bei den beiden letzteren Komponisten noch nicht wirklich durchgesetzt. Wenn wir aber die Manuskripte Bellinis lesen, wird klar, dass die auch heute noch in den meisten Theatern gängige Besetzung der Hauptrollen in Norma den Stimmcharakter der Rollen nicht richtig wiedergibt und jene falsche Tradition der 1950er Jahre weiterführt. In der Uraufführung war die Sängerin der Titelpartie in der Tat ein Mezzosopran, die Adalgisa hingegen wurde von Giulia Grisi (1811–1869) verkörpert — derselben Sängerin, die u.a. In der Uraufführung von Donizettis Don Pasquale die Norina sang. Interessant ist auch der Vergleich zwischen ihrem Repertoire und dem der Malibran: In Mozarts Don Giovanni zum Beispiel sang die Grisi die Donna Anna, Malibran hingegen die Zerlina, in Bellinis I Capuleti e i Montecchi die Giulietta, während die Malibran stets den Romeo verkörperte. Und nicht zuletzt schrieb Bellini für die Grisi die erste Fassung von I puritani. Für die Malibran legte er dann dieselbe Rolle bis zu einer Terz tiefer.
Nichtsdestotrotz sind die Unterschiede zwischen Adalgisa und Norma von der Lage und Virtuosität her gar nicht so wesentlich — im Manuskript sind denn auch alle drei weiblichen Rollen der Oper mit “Sopran” bezeichnet. Der Unterschied ist mehr inhaltlich-dramaturgisch: Auch wenn noch jung, hat Norma im Leben mehr erfahren, ist reifer. Sie ist die Anführerin, deren Autorität sich alle unterwerfen, die als Einzige das Zeichen zum Krieg geben kann, die vom Liebhaber verlassene zweifache Mutter, welche bereit ist, ihre Kinder zu töten, die Verzweifelte, die sich selbst opfert. Dagegen die ganz und gar mädchenhafte, jungfräuliche Novizin Adalgisa, eben im Tempel aufgenommen und schon von Pollione verführt: Ihre Musik ist wohl schwärmerisch und intensiv, jedoch nie dramatisch; Norma hingegen ist heroischer gezeichnet. Diesen Kontrast durch unterschiedliche Timbres und Persönlichkeiten herauszubringen macht meiner Meinung nach sehr viel Sinn: aber dem Rollencharakter entsprechend und somit mit Norma als Mezzosopran und Adalgisa als Sopran.
Noch ein Wort zu Pollione: Offenbar haben sich auch hier im 20. Jahrhundert die Hörgewohnheiten stark geändert. Der Tenor der Uraufführung, Domenico Donzelli (1790–1873), brillierte während des größten Teils seiner Karriere in Rollen von Rossini, welche eine sehr flexible, koloratur-gewandte Stimme verlangen: Tancredi, Barbiere, Cenerentola, L’inganno felice, Otello, Il viaggio a Reims u.a.m. Mit der Malibran sang er in Paris den Herzog in Halévys Clari, eine, wie wir heute wissen, ebenfalls nicht wirklich dramatische Partie. Folglich hätten die berühmten Polliones unserer Zeit, del Monaco oder Corelli, gleichermaßen in der Cenerentola oder im Barbiere reüssieren müssen…?
Für die heutige Aufnahme war es mein Wunsch, Bellinis Oper dem Klangbild der Belcantozeit anzunähern. Neben der sängerischen Besetzung, welche der Vokalität der Uraufführung entspricht, tragen eine auf Basis des Autographen erarbeitete kritische Notenedition, die Beachtung der originalen Tempos, Dynamik und Phrasierung, die der damaligen Zeit entsprechende tiefere Stimmung von 430 Hz und die historischen Instrumente das Ihre dazu bei, die zahlreichen Nuancen dieses Werks hervortreten und den Vorstellungen des Komponisten hoffentlich gerecht werden zu lassen.