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Kleibers Kunst

Carlos Kleiber © Siegfried Lauterwasser / DG
© Siegfried Lauterwasser / DG
23.06.2010
Carlos Kleiber war ein Skeptiker, der seiner eigenen Kunst sehr kritisch gegenüber stand. Seine Aufnahmen sind rar, sein Repertoire beschränkte sich im Vergleich zu manchen Kollegen auf wenige Stücke, die er dafür aber umso intensiver durchleuchtete, weil er ihnen möglichst umfassend gerecht werden wollte. Deshalb dauerte es auch lange, bis er sich den Symphonien von Ludwig van Beethoven widmete. Immerhin gehören die Fünfte und die Siebte zu den meistgespielten Werken in internationalen Konzerthäusern und lagen auch in den siebziger Jahren bereits in zahlreichen brillanten Einspielungen vor. Kleiber ließ sich daher viel Zeit und studierte mit den Wiener Philharmonikern in langen Proben seine exquisiten Interpretationen der Orchesterwerke ein. Die Aufnahmen der 5. und 7. Sinfonie fanden zwischen März 1974 und Januar 1976 im Musikvereinssaal statt und präsentierten die emphatischen Stücke mit verblüffender Energie, die die Feinnuancierung der dynamischen Schwankungen, überhaupt die zahlreichen Details sorgsam zelebrierten und aus dem Nachspielen eine unverwechselbare Stellungnahme machten.

Ähnliches galt auch für Kleibers Umgang mit dem Orchesterwerk von Johannes Brahms. Dessen 4.Sinfonie war für den Dirigenten ein Fundus ausgefallener Themen und Bearbeitungen und gehörte fest zu dem vergleichsweise kleinen Repertoire, mit dem sich der Dirigent in der Öffentlichkeit präsentierte. Die Zurückhaltung hatte Methode, denn auf diese Weise gelang es ihm, in überschaubarem Rahmen zu verblüffender Meisterschaft zu kommen, die beispielsweise den Rezensenten der Fachzeitschrift Opernwelt zu Elogen verführte: “Nie zuvor und auch seither nicht mehr habe ich die schweren Akzente der Streicherpizzikati im Anschluss an die acht festlichen Bläserakkorde so körperlich-sinnlich erfahren wie in Kleibers – man muss schon sagen – Neuschöpfung”.

Carlos Kleibers Einspielungen der 3. und 8. Sinfonie von Franz Schubert, die mit den Wiener Philharmonikern im September 1978 im Großen Saal des Wiener Musikvereins entstanden, stellte für Zeitgenossen wie den Musikwissenschaftler Peter Cossé gar die Ultima Ratio der Interpretation dar: “Vielleicht ist dies auch eine der Rätsellösungen, warum man sich – ganz gleich, welche musikalische Vorbildung und Kenntnisse man auch hat – im Anschluss an eine Kleiber-Vorführung so restlos unterrichtet und aufgeklärt fühlt, obwohl man dasselbe Werk doch längst gründlich zu kennen glaubte. Wer sich wie Kleiber intensiv mit der Musik aller Zeiten und mit den Problemen ihrer Wiedergabe befasst, sich aber in der Aufführungspraxis auf eine überschaubare Zahl von Kompositionen beschränkt, der wird diese nur mit äußerster Akribie und nach strengster (Selbst)Prüfung der Öffentlichkeit preisgeben. Nicht nur der Leumund der größten Komponisten steht auf dem Spiel, sondern auch jener des Interpreten, der für alles, was er aus der Hand gibt, ein Leben lang haftet – und im Fall der Schallplatte bis ans Ende aller Tage”.

Dieses sinfonische Triumvirat – Beethoven, Brahms und Schubert – markiert daher die eine Seite der 12CD-Box, mit der die Deutsche Grammophon den im Juli 2004 verstorbenen Maestro anlässlich seines 80.Geburtstages ehrt. Darüber hinaus hat er insgesamt vier Opereinspielungen verwirklicht, die die Edition der Aufnahmen abrunden, alle voran seine berühmte Fassung von “La Traviata”. Denn den 1977 erstmals auf Schallplatte erschienenen Münchner Aufführungen gelang es, die Vieldeutigkeit der Partitur vorbildlich einzufangen. Durch intensive Arbeit an der Münchner Staatsoper mit Orchester und Chor vertraut und durch Solisten wie Ileana Cotrubas (Violetta), Plácido Domingo (Alfredo) und Sherrill Milnes (Giorgio) unterstützt, entlockte der für seinen Präzision und emotionale Dichte bekannte Dirigent dem Ensemble eine direkte, klare Umsetzung voller Leben, aber ohne Sentimentalitäten. Das machte die Aufnahme schon kurz nach ihrem ersten Erscheinen zur Referenz.

Zwischen dem 22. Januar und dem 8. Februar 1973 wiederum wurden in der Dresdner Lukaskirche luxuriöse 60 Stunden auf Bänder gebannt, die Kleiber für Carl Maria von Webers “Freischütz” für nötig gehalten hatte und die die Grundlage der Opernaufnahme bilden. Das Ensemble war mit Sängern wie Peter Schreier (Max), Gundula Janowitz (Agathe) und Theo Adam (Kaspar) sorgfältig besetzt, die Sprechpassagen wurden darüber hinaus von Schauspielern übernommen. Die transparente Raumakustik sowie durch die deutsch-deutsche Kooperation hoch motivierte Musiker der Dresdner Staatskapelle und des Rundfunkchores Leipzig taten ihr Übriges, dass aus den einzelnen Aufnahmepassagen ein quasi idealtypischer “Freischütz” entstehen konnte, der zusammen mit der “Fledermaus” und “Tristan und Isolde” die Jubiläums-Box zum in der Auswahl speziellen und zugleich interpretatorisch grundlegenden Schmuckstück der Tonträgergeschichte werden lässt. Sorgfältig ediert und um bislang unveröffentlichte Fotos ergänzt, gehört sie zu den Höhepunkten der historischen Veröffentlichungen dieses Musiksommers.

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