Carlo Maria Giulini | News | Vision und Leidenschaft

Vision und Leidenschaft

07.05.2004
Der große, italienische Dirigent Carlo Maria Giulini wird am 9. Mai 90 Jahre alt. Geboren zwar im süditalienischen Barletta, doch aufgewachsen im Norden und geprägt von austro-germanischen Kultur, spielte er nach seiner Ausbildung an der Accademia di Santa Cecilia als Bratscher unter Otto Klemperer, Bruno Walter oder Wilhelm Furtwängler, bis er sich selbst dem Dirigieren zuwandte.
“Ich habe einen Dirigenten gefunden!”, hieß es am anderen Ende der Leitung, als Herbert von Karajan den Telefonhörer abnahm. Ort: Die Mailänder Scala. Das Jahr: 1952. Karajans englischer Produzent hatte – stets auf der Suche nach einem geeigneten Dirigenten für seine weitreichenden Schallplattenpläne – bei einer Probe den damals 38-jährigen Assistenten des Scalachefs gehört. Karajan kam schnell, hörte gespannt zu, gratulierte dann dem großen, distinguiert wirkenden jungen Mann – Carlo Maria Giulini – und versprach ihm jedwede Unterstützung. Aber auch ohne direkte Hilfe durch den nur acht Jahre Älteren machte Giulini innerhalb weniger Jahre eine steile Dirigentenkarriere, erst in Italien, dann in Europa und schließlich in den USA.
 
Vom Scala-Assistenten wurde er schnell selbst zum musikalischen Chef in Mailand, Operndebüts in Edinburgh und London gerieten zu Sensationen. Als einen “Feuerkopf voller Leidenschaft” bezeichnete ihn 1955 bei seinem ersten Auftritt in Chicago die königsmachende oder auch königsmordende Kritikerin Claudia Cassidy (in jener Zeit schrieb sie beispielsweise Rafael Kubelik als Chef des Chicago Symphony Orchestras regelrecht aus der Stadt).
 
Giulini arbeitete in maßgeblichen Opernproduktionen mit Maria Callas, mit den Regisseuren Luchino Visconti und Franco Zeffirelli zusammen. In seinen Aufnahmen verbindet sich eine farbintensive Orchesterbehandlung, die Virtuosität keineswegs ausschloß (doch diese auch nie zum Selbstzweck machte). Ausgeprägte rhythmische Präzision geht mit einer geistigen Durchdringung des kompositorischen Materials, bei im Alter mit immer langsameren Tempi, einher.
 
Dabei war Giulinis Repertoirewahl stets eigentümlich selektiv. Geprägt durch eine strenge Ausbildung besaß eine Abneigung gegenüber Allem, was knallig-direkt, was auf irgendeine Weise unter Vulgaritätsverdacht stehen könnte. Darunter fiel für ihn beispielsweise der ganze Puccini, aber anfangs auch der frühe oder mittlere Verdi.
 
Spät fand er zu Mozart, zu Beethoven, Brahms, zu Bruckner und Mahler. Dafür dann aber umso intensiver. Die Musik nach 1945 – das gibt Giulini unumwunden zu – interessiere ihn eigentlich nicht (und doch hat er auch einiges von Benjamin Britten bzw. einige Uraufführungen z. B. von Boris Blacher und Gottfried von Einem dirigiert). Diese langsame Bewegung zu ausgewählten Werken hin, erklärt vielleicht auch den unverwechselbaren, stets sanglich, wie noblen Giulinischen Klang. Sowie seine niemals nachlässige, sondern hörbar intensive Realisierung der Partituren, die weiter geht als ein bloßes Lösen von technischen Problemen. Wer Giulini hört, erlebt unmittelbar, dass mehr hinter den Noten steckt.
 
Hinter diesen Anspruch wollte er nie zurückstehen – und so überraschte Giulini 1968, er, der gefeierte Dirigent italienische Opern, die Musikwelt mit der Ankündigung, niemals mehr an einem Theater aufzutreten. Mangelnde Probemöglichkeiten war nur eine der Begründungen. Eine andere war die – seiner Meinung nach – zu dominante Position der Regisseure. Ein bloßer Organisator des musikalischen Ablaufes zu sein, war ihm zu wenig. So dirigierte der ausgewiesene Musiktheaterspezialist fortan Opern nur noch im Aufnahmestudio (mit einer späten Ausnahme). Wenige Jahre nach dieser Entscheidung – Giulini war weiterhin sehr eng dem Chicago Symphony Orchestra verbunden, leitete ausserdem die Wiener Symphoniker, später dann Los Angeles Philharmonic – wurde die Deutsche Grammophon sein Hauslabel. Aus dieser Zeit existieren eine ganz Reihe von denkwürdigen Aufnahmen. Besonders erwähnenswert ist die noch immer maßstäbliche, uneitle, in ihrer Verinnerlichung konsequent auf das Weltabschiedsfinale hin dirigierte 9. Sinfonie D-Dur von Gustav Mahler mit CSO.
 
Oder eine überraschende “Eroica” – das erste Dokument der neu gegründeten Zusammenarbeit mit dem LAPO aus dem Jahre 1979. Eine – trotz (oder wegen?) der ungewohnt breiten Tempi – erfrischend wirkende Auffassung, um nicht zu sagen – eine Vision. Denn das gehört zu den Besonderheiten Giulinis – Vision und Aufrichtigkeit. Genauer: die Vision wirkt stets echt und erlebt, niemals aufgemotzt oder mit falschem Weihrauch garniert. Das macht auch seine Bruckner-Einspielungen mit den Wiener Philharmonikern unerreicht – hat man jemals den endlosen Atem des Adagios aus der 8. Sinfonie so spannungsvoll wie ergreifend, dabei frei von äußerem Pathos erlebt? Seine spät entstandenen Verdi-Aufnahmen “Rigoletto”, “Il Trovatore” oder “Falstaff” dokumentieren eine dunkle Ernsthaftigkeit, die man den viel gespielten Werken gar nicht mehr zugetraut hätte. Das “Messa da Requiem” erhielt unter seiner Leitung eine sakrale Aura, die das alte Wort von “Verdis bester Oper” Lügen strafte.
 
Bemerkenswert ist auch Giulinis Fähigkeit, Solisten von völlig unterschiedlichem Temperament kongenial zu begleiten. Hingewiesen sei nur auf seine Zusammenarbeit mit so ausgeprägten Pianistenpersönlichkeiten wie Vladimir Horowitz (Mozart), Krystian Zimerman (Chopin), Arturo Benedetti-Michelangeli (Beethoven) oder Lazar Berman (Liszt).
 
Heute tritt Carlo Maria Giulini nicht mehr öffentlich auf – aber er dirigiert noch. Er studiert und probiert mit den jungen Musikern des Orchestra Sinfonica di Milano Giuseppe Verdi, sehr zur Freude von deren Chef Riccardo Chailly. Natürlich in Mailand.
 
Kai Uwe Diaz Philipp

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