Anja Lechner | News | Die Entdeckung der eigenen Stimme – Anja Lechner und François Couturier mit unverwechselbarer Improvisationskunst

Die Entdeckung der eigenen Stimme – Anja Lechner und François Couturier mit unverwechselbarer Improvisationskunst

François Couturier / Anja Lachner
Makr Mushet / ECM Records
14.10.2020
Der künstlerische Rang eines kammermusikalischen Projekts bemisst sich nicht allein an der Virtuosität oder dem poetischen Ausdrucksvermögen der teilnehmenden Solisten. Das Wissen um den Anderen, um seine momentane Stimmung, seine Art zu spielen, zu fühlen und zu denken, ist mindestens genauso wichtig. Anja Lechner und François Couturier haben mit solchen emotionalen Prozessen Erfahrung. Die deutsche Cellistin und der französische Pianist musizieren seit zwei Jahrzehnten in unterschiedlichen Konstellationen zusammen. In den gemeinsamen Jahren beim Tarkovsky Quartet entwickelten sie ein Gespür füreinander und eroberten klangliches Neuland. An der Seite von Jean-Marc Larché (Saxophon) und Jean-Louis Matinier (Akkordeon) machten sie sich jene melancholische Ästhetik der Langsamkeit zu eigen, die in den epischen Filmen des sowjetischen Regisseurs Andrei Tarkovsky bildhaft vorgeprägt war und beim Münchener Label ECM New Series musikalisch nachhallte. 
Tarkovsky, im künstlerischen Selbstverständnis des ECM-Produzenten Manfred Eicher eine Schlüsselgestalt, ging es um die “versiegelte Zeit”, um verborgene Tiefen spirituellen und poetischen Sinns. Diesen Sphären vermag man sich nicht benennend oder analytisch zu nähern. Sie zeichnen sich ab, wenn man ihnen in Bildern, Erzählungen und Klängen nachspürt.
Die unweigerliche Modernität
Anja Lechner und François Couturier bewegen sich im Medium der Musik auf der Spur ihres je individuellen und gemeinsamen Zeiterlebens. Couturier beschwört im Booklet zu dem neuen Album des Duos die “geteilte musikalische Erinnerung” der beiden Solisten. Dass manche Stücke wie notiert erscheinen, obwohl sie improvisiert sind, führt der Klaviervirtuose auf seine musikalische “Komplizenschaft” mit Anja Lechner zurück. Doch so stark ihnen der lange Atem der Geschichte nachweht: Lechner und Couturier sind weit davon entfernt, sich einem nostalgischen Sog hinzugeben. Beide betonen den gegenwartsbezogenen Aspekt des Musizierens, das Hier und Jetzt der Aneignung, die unweigerliche Modernität. Couturier spricht von “magischen Augenblicken”, Lechner von der Musik als “Gestalt, die mich neugierig macht, herausfordert und berührt”. Diese Berührung findet in einem konkreten Moment statt. Und doch kann man die “versiegelte Zeit” geschichtsorientierter oder losgelöster aufbrechen und musikalisch in Bewegung bringen.    
Emanzipatorische Prozesse
Der moderne Ansatz, dass Hier und Jetzt der Aneignung, ist bei Anja Lechner und François Couturier noch nie so deutlich zutage getreten wie in ihrem neuen Album “Lontano”. Bereits ihr Duo-Debüt, das 2014 unter dem Titel “Moderato cantabile” bei ECM New Series in München erschien, hatte durch seine stark improvisatorische Note die poetische Originalität von Lechner und Couturier hervortreten lassen. Doch durch die konzentrierte Einfühlung in Komponisten wie Georges I. Gurdjieff oder Komitas Vardapet war ihr Debüt fester im Netz der Überlieferung gefangen, als dies bei ihrem neuen Album der Fall ist. Obwohl sie in “Lontano” mit Werken von Ariel Ramírez, Giya Kancheli, Anouar Brahem und Henri Dutilleux viel fremdes Repertoire aufgreifen, bildet das Album einen deutlich spürbaren Emanzipationsprozess ab. Lechner und Couturier haben zahlreiche Eigenkompositionen in ihr neues Programm aufgenommen, und ihr Rückgriff auf Werke oder Motive anderer Komponisten wirkt noch freier als früher. Kurz: Die beiden Solisten haben als Duo zu ihrem Stil gefunden. 
Die Mitte ihres Musizierens bilden gesangliche Motive. Das trägt Anja Lechners Überzeugung Rechnung, dass das Cello wie kaum ein anderes Instrument zum Singen prädestiniert ist. François Couturiers Stärke am Klavier sind dynamische Akzente und harmonische Verfeinerungen der elegischen Melodien, die Anja Lechner am Cello ebenso empfindsam wie scharf konturiert vorträgt. Die poetische Stimmung auf dem Album trägt immer noch Züge der Tarkovskyschen Melancholie. Aber der Ton ist intimer, die Farbpalette breiter und die expressive Sicherheit der beiden Solisten größer geworden als zu Zeiten ihres Duo-Debüts und des Tarkovsky Quartet.

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