Alfred Brendel wird 70. Aber diese Hände sind magisch wie eh und je. Oder macht er mal wieder Witze?
So deutlich hat Alfred Brendel es nie gesagt wie jüngst: “Das Klavier kann alles. Es kann singen und Violinstimmen und Bläsersätze spielen.” Und ungerührt um alle Widersprüche legte er auch gleich ein schönes Beispiel nach – die A-Dur-Sonate KV 331 von Mozart: “Der erste Satz ein symphonisches Stück, der zweite eine Sopranarie mit dramatischem Mittelteil im erhabenen Stil der Opera seria und der dritte Satz ein Stück für Bläserdivertimento.” Punktum. Das Klavier kann eben alles – jedenfalls mit Brendel als seinem geistreichsten und querständigsten Herausforderer. Niemand jedenfalls schiebt die Grenzpfähle seiner pianistischen und geistigen Existenz so weit in immer neue Erfahrungs- und Denkbezirke vor wie er: Alfred der Eroberer. Ein Grübler und Skeptiker gleichwohl, einer, der sichtbarlich leidet an dem, was er noch nicht erreicht zu haben glaubt: Alfred der Schüchterne. Ein Künstler dennoch voll hintergründigem Witz, dem Lust und Frust am Absurden stets ein willkommenes Lebenselixier waren. Und gerade für diese Facetten seiner Persönlichkeit hat Brendel neben der Musik ein weiteres ideales Medium gefunden: das Gedicht.
Jetzt wird er 70: das Idol, der Leitstern, der Philosoph und Prophet, wie man ihn als Pianisten und Musiker über die Jahrzehnte seines emphatischen Schaffens hinweg nicht aufgehört hat zu preisen. Und tatsächlich hat dieser österreichische Einzelgänger mit Londoner Domizil im Konzertsaal ebenso wie mit seinem imposanten Schallplatten-Werk und seinen Musik-Essays Exemplarisches geleistet und bewirkt. Allein die Deutungen seiner Beethoven-Zyklen stehen als singuläre Erscheinungen da in ihrer dramatischen Tiefenschärfe, ihrem metaphysischen Glanz. Die jüngste, mittlerweile vierte Gesamtaufnahme von Beethovens Klavierkonzerten mit Simon Rattle und den Wiener Philharmonikern – sein opus magnum. Brendel dabei so angriffslustig und lebhaft wie nur der jugendlichste Feuerkopf, angetrieben vom Wissen um neugewonnene Freiheiten und Finessen. Und gottlob hat er auch seine wunderbar intimen Gespräche mit Schubert nicht abgeschlossen, den überhaupt er erst vom Ruch des Harmlos-Heiteren befreite. Gerade mit dem späten Schubert mit seinen zarten Hymnen, seinen Demutsgebärden, seiner umflorten Bockigkeit, wie Brendel es so schön umschreibt, hat er sich immer wieder auseinander gesetzt, neugierig, gewissenhaft, hellwach.
Brendels Konzert-Tournee 1999 gipfelt denn jetzt auch in einem CD-Recital mit den beiden späten Sonaten D 959 und D 960 als Höhepunkt, denen keiner wie er solche Größe, so viel todesnahe Süße zu geben versteht. Nur bei dem späten Liszt ist Brendel als Pionier ähnlich verstörend in die verlöschenden Abgründe und trotzigen Einsamkeiten getaucht, in denen das revolutionäre Potential des Komponisten gärt. Möge er uns sein intellektuelles Ungestüm, seine Besessenheit lange erhalten!