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Mansurian: Poesie der Steinhaufen

Tigran Mansurian: Ars Poetica
12.04.2006
Es hat eine Zeitlang gedauert, bis die Werke des armenischen Komponisten Tigran Mansurian ihren Weg in die internationale Musiköffentlichkeit gefunden haben. Seit jedoch in den neunziger Jahren vermehrt Aufnahmen seiner Stücke auch außerhalb der ehemaligen Sowjetunion wahrgenommen wurden, zählt er zu den wichtigsten Klangkünstlern seines Landes. Das Label ECM New Series begleitet seit einigen Jahren mit Aufnahmen wie “Hayren” und “Monodia” aktiv Mansurians Oeuvre und  fügt dem Komponistenportrait mit “Ars Poetica” nun eine weitere wichtige Facette hinzu.
Tigran Mansurian wurde am 27. Januar 1939 in Beirut geboren. Als Armenier 1948 in die Sowjetunion wieder eingebürgert, begann er im Alten von 17 Jahren an der Musikfachschule von Jerewan seine Ausbildung. Er studierte Komposition, schloss nach erfolgreichem Abschluss ein Studium am Konservatorium an, das er 1967 mit Promotion beendete. Seinen Unterhalt verdiente er zunächst als Klavierbegleiter in der Ballettfachschule, dann als Musiklektor beim Armenischen Rundfunk. Mansurian geriet in das Räderwerk der sozialistischen Bürokratie, ergatterte eine Stelle am Konservatorium in Jerewan und lehrte dort von 1968 bis 1990 Analyse und Formlehre der zeitgenössischen Musik. Nach der Öffnung der Sowjetunion zog er sich aus dem Alltag der Konservatoriumsarbeit zurück und widmete sich zunehmend seinem kompositorischen Schaffen. Stilistisch zählte Mansurian in den Sechzigern zunächst zu so genannten sowjetischen Avantgarde, setzte sich inhaltlich intensiv dem Neoklassizismus, Webern, aber auch impressionistischen Formmodellen auseinander. Im Zentrum seiner Arbeit stand zunächst die Beschäftigung mit der Klanglichkeit an sich, bald aber auch das Interesse an der Integration von volksmusikalischen Elementen in die historische und zeitgenössische Kompositionskunst. Die Siebziger waren bestimmt von einer Hinwendung zur Reduktion und “Neuen Einfachheit”, die folgenden Jahre von der Synthese der verschiedenen Einflüsse und der Herausarbeitung eines armenischen Nationalstils persönlicher Prägung.

Dieser Prozess stellte sich als ebenso produktiv wie umfangreich dar und ist für Tigran Mansurian bis heute nicht abgeschlossen. Sein in den Jahren 1996 bis 2000 entstandenes “Ars Poetica – Concerto for mixed choir a cappella” etwa bezieht sich auf Gedichte von Yegishe Tcharents (1897–1937), dem als Opfer des Stalinismus unter ungeklärten Umständen gestorbenen wichtigsten Poeten Armeniens des 20. Jahrhunderts. Mansurian nähert sich ihm und dessen Werk auf ebenso persönliche wie strukturelle Weise: “Der Klang und die biegsame Struktur seiner Dichtung sind Wurzel und Ausgangspunkt meiner Musik. Mit Klang meine ich das Rohe in Tcharents' Sprache, die an Steinhaufen erinnernden Konsonanten, die gleichsam ‘zerrissenen’ poetischen Figuren. Die auf modaler Grundlage entstandenen melodischen Linien habe ich in verschiedenen Fakturen verarbeitet – vom einstimmigen Gesang bis zum Cluster”. Zehn Gedichte hat Mansurian in behutsamer Form musikalisch verarbeitet, alle behandeln sie das Verhältnis von Leben und Dichtung. Die Herangehensweise ist unterschiedlich, mal symbolisch, mal konkret: “Ich habe auch Gedichte ausgewählt, die ein Bild beschreiben. Wenn das Gedicht zum Beispiel von einem Mädchen handelt, dessen Augen an die Jungfrau Maria erinnern, verwende ich Klangmodelle, die in der alten Musik, vor allem in der italienischen für das Bild der Jungfrau standen”. Immer wieder stellten sich Fragen der Umsetzung, der Bedeutung, die Mansurian intuitiv zu lösen suchte “Ich habe mehr als vierzig Jahre mit Tcharents' Gedichten gelebt. Den einzigen Weg, diese Fragen zu beantworten, findet man beim Komponieren und kann so verborgene Türen öffnen.”

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